Holes in Roles: Löcher im Rollengefüge der
Familie
Die Mehrgenerationenperspektive im innerpsychischen
System
Barbara Fischer-Bartelmann und Almuth Roth-Bilz
Zugang zu den seelischen Anlagen über den Körper
Schon immer war es ein wichtiger Teil der Theorie der
Pesso-Psychotherapie, das seelische Entwicklungspotential zu
beschreiben, mit dem ein Kind auf die Welt kommt. Al Pesso nennt diese
Anlagen das genetische Gedächtnis, im Gegensatz zum autobiographischen
Gedächtnis, welches die Aufzeichnung der individuellen
Lebensgeschichte enthält. In diesem universellen genetischen
Gedächtnis ist unter anderem abgespeichert, welche Art von Interaktion
das Kind erwartet, um seine Entwicklungsaufgaben in optimaler Weise
erfüllen zu können. Dieses Wissen wird im Rahmen einer Struktur
(szenischer Körperpsychotherapie-Sitzung) als Entwicklungs-impuls der
Seele zugänglich gemacht, die trotz der entwicklungsgeschichtlichen
Defizite eine Empfänglichkeit für das Entbehrte bewahrt und die
Passform sofort erkennt. Es ist die wichtigste Informationsquelle, um
die heilende Antidot-Szene zu gestalten, und bildet insofern die Basis
der Possibility Sphere, d.h. der von einer grundlegenden Zuversicht
erfüllten therapeutischen Haltung.
Die angeborene Grammatik der Familienbeziehungen
Im Rahmen seiner therapeutischen Arbeit ist Al Pesso aber immer wieder
auf Phänomene gestoßen, die ihn dazu geführt haben, sein Augenmerk auf
einen weiteren Inhalt dieses genetischen Gedächtnisses zu
richten. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist es nämlich nicht nur
ausgestattet mit der Anlage und Fähigkeit, auf verschiedene
Familienfiguren, denen es während seiner Kindheit begegnet, in
spezifischer Weise zu reagieren und deren passende Interaktion zu
erwarten und zu integrieren, also mit einem eingebauten Wissen
darüber, was es von einer Mutter, einem Vater, von Geschwistern,
Großvater, Großmutter, Onkel, Tante, Gefährten „erwartet“, wie es die
Beziehung zu ihnen gestalten, wie es deren Verhalten einordnen und wie
es darauf reagieren kann.
Neu ist die Annahme, dass das Kind in sich zusätzlich auch das
angeborene Potential trägt, die Funktion aller dieser verschiedenen
Rollen, von Mutter, Vater, Großmutter, Großvater, Partner, Gefährte
usw. zu übernehmen und für andere auszufüllen. Das genetische oder
evolutionäre Gedächtnis enthält also auch Informationen über die
Erwartungen, die an diese Positionen gerichtet werden und wie diesen
Erwartungen entsprochen werden kann. Man könnte diese angeborenen
Kategorien von Kapazitäten das „Stamm-Selbst“ nennen (analog zu den
Stamm-Zellen der Embryonalentwicklung), welches dann, durch jeweils
spezifische äußere Umstände ausgelöst, sich dahin weiterentwickelt,
die diesen Umständen jeweils entsprechende Rolle, passend zu den
Bedürfnissen des Gegenübers, zu übernehmen – übrigens unabhängig vom
eigenen biologischen Geschlecht. Zusammenfassend: Das Kind trägt in
sich nicht nur das Wissen um die verschiedenen Pass-Formen zu seinen
eigenen Bedürfnissen (die diese im richtigen Alter und im Rahmen der
richtigen Verwandtschaftsbeziehung befriedigen), sondern auch das
Wissen darum, wie es selbst eine Passform zu den Bedürfnissen anderer
bieten kann und aus welcher Verwandtschaftsposition heraus dies
jeweils zu geschehen hat. Nicht nur das wahre Selbst bildet sich also
durch spezifische Interaktionen, die das Ich als „richtig“ erkennt,
„planmäßig“ zum individuellen Selbst aus, auch die darin enthaltenen
altruistischen Anlagen werden durch Interaktionen in ihrer Ausprägung
geformt.
Al Pesso geht davon aus, dass diese „Grammatik der
Familienbeziehungen“ ebenso angeboren ist wie die grammatischen
Strukturen, welche die Basis des Spracherwerbs bilden. Ebenso wie
Kinder natürlicherweise in der Lage sind, aus allen auf der Welt
gesprochenen Sprachen Hauptworte, Verben und Adjektive aus einem Satz
herauszuhören und zu verstehen, genauso sind sie in der Lage, alle
Verwandtschaftsbeziehungen in ihrer Komplexität mit all ihren
Variationen und Implikationen wahrzunehmen und darauf adäquat zu
reagieren. Von ihrer neurologischen Ausstattung her sind Kinder in der
Lage, angemessen „Familie“ wahrzunehmen und sie sind verhaltensmäßig
ausgestattet, angemessen als Mitglied einer Familie zu agieren.
Alles hat seine Zeit
Es gibt auch eine angeborene, neurologische Zeitdimension, in der die
verschiedenen Rollen reifen. Von der Evolution her gesprochen ist es
sinnvoll, dass sich das Kind zu Beginn der psychischen Entwicklung
zunächst in den Rollen Sohn/Tochter, Enkelkind, Neffe/Nichte,
Schwester/Bruder etc. befindet. Die weiteren im Stamm-Selbst
angelegten Rollen sollten sich erst in der späteren Entwicklung zu
erwachsenen, gebenden Familien-Rollen hin ausdifferenzieren, so dass
man erst dann die Rolle von Mann oder Frau übernimmt, wenn man so weit
gereift ist, dass man auf erwachsene Weise Verantwortung für eine
verbindliche Partnerschaft auf Gegenseitigkeit übernehmen kann; dass
man erst dann „Eltern“ wird, wenn man die Sexualreife erlangt hat und
von der emotionalen Entwicklung her so weit ausgereift ist, dass man
in der Lage ist, elterlich-fürsorgliche Verantwortung für ein Kind zu
übernehmen. So wie allgemein für die Erfüllung der Grundbedürfnisse
gilt, dass sie in der gesunden Entwicklung zunächst konkret und dann
symbolisch von außen erfüllt werden müssen, damit das Kind diese
Bedürfnisbefriedigung integrieren und schließlich autonom für sich
selbst erfüllen kann, so sollte es auch im Rahmen der
„Generationengrammatik“ der Fall sein, dass das Kind sich den anderen
Familienmitgliedern gegenüber zunächst in der empfangenden Rolle
befindet und die Erfahrung des Bemuttert- oder Bevatertwerdens, das
Modell der Paarbeziehung der Eltern in sich aufnehmen kann, bevor
seine eigenen entsprechenden Kapazitäten, diese Rollen auszufüllen,
aktiviert werden.
Löcher in den Rollen
Diese Reihenfolge wird verletzt, wenn Kinder das Unglück haben,
erfahren und erleben zu müssen, dass ihre Eltern in ihrer eigenen
Kindheit schmerzlich verwundet sind dadurch, dass in ihrer
Ursprungsfamilie bestimmte Funktionen zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse
nicht erfüllt worden sind (das ist mit den „Löchern in den Rollen“
gemeint), sie beispielsweise von ihren eigenen Eltern vernachlässigt
worden sind. Das Kind, das diese Geschichte hört, verfügt über das
innere Wissen, dass alle Kinder die Sehnsucht nach dem Erleben von
elterlicher Fürsorge haben, und unmittelbar springt sein kleines Herz
und seine mitfühlende Seele an, sofort erwacht der unausgesprochene,
meist unbewusste Wunsch, dass auch für seine Eltern besser hätte
gesorgt sein sollen. Dieses Mitgefühl, dieser Sinn für
„Ungerechtigkeit“ ist eine erstaunlich starke Triebfeder und der
wesentliche Motor für die sich daraufhin entwickelnde Dynamik.
Das Ausfüllen der Löcher
Das Wissen um die Defizite der Eltern oder anderer Bezugspersonen in
der Familie hat nämlich weitreichende Folgen. Dies ist sogar dann der
Fall, wenn das Kind diese Defizite nicht direkt erlebt und wahrnimmt
(wie z.B. bei einem unterversorgten Geschwisterkind, oder einer
unglücklichen Ehe der Eltern). Auch wenn die Information nur aus
Erzählungen stammen und die Defizite in Zeiten angesiedelt waren, die
das Kind niemals selbst erlebt hat (z.B. in der Kindheit der Eltern
oder noch viel früher in der Familiengeschichte), so sieht das Kind
die entsprechenden Szenen dennoch vor seinem geistigen Auge vor sich,
und sie rufen dieselben Impulse hervor: Sie aktivieren die genannten
Kategorien des „Stamm-Selbst“ im Kind.
Das Kind hat ein klares Gespür für die fehlende Funktion und die darin
liegende Ungerechtigkeit: Ein legitimes Bedürfnis ist nicht befriedigt
worden. Dies weckt den übermächtigen, jedoch so gut wie immer
unbewussten Impuls, diese Ungerechtigkeit wieder gut zu machen, indem
das Kind selbst die fehlende Funktion übernimmt, die Lücke füllt – mit
dem noch unausgereiften Teil seines Selbst, der in der gesunden
Entwicklung erst im Erwachsenenalter ausgebildet würde, nun aber
vorzeitig mobilisiert wird. Es hört vom gefallenen Großvater und
mobilisiert seine Anlagen, Vater zu sein (für das verwaiste Kind, das
seine Mutter war), seine Anlagen, Partner zu sein (für die verwitwete
Großmutter), seine Anlagen, Sohn und Bruder zu sein (für die
zurückgebliebenen Eltern und Geschwister des Verstorbenen) etc. Dieser
Impuls geht also weit über den herkömmlichen Begriff der
Parentifizierung hinaus: Das Kind ist sich nicht nur selbst Vater oder
Mutter, nicht nur für seine Geschwister, es kommt nicht nur in die
Rolle eines Partnerersatzes für einen Elternteil (all dies mögliche
Rollen, die bereits in diesem Begriff enthalten sind), es kann sich
dazu aufgerufen fühlen, praktisch jede mögliche Rolle im
Familiengefüge zu ersetzen.
Motivation dieses Impulses
Die wichtigste Wurzel dieses Impulses ist das Mitgefühl, das das Kind
für den verwundeten Teil der bedürftigen Personen empfindet,
beispielsweise für die Mutter, die ihren eigenen Vater verloren
hat. Dieses Mitgefühl ist von langer Dauer, manchmal lebenslang, und
ist häufig in Strukturen sehr deutlich zu beobachten, wenn –
möglicherweise neben dem versagenden Aspekt der Mutter – derjenige
Aspekt der Realen Mutter in der Struktur eingeführt ist, dem gegenüber
der Klient Verständnis und Mitleid empfindet. Dann wird mit der
Heftigkeit des Mitgefühls ein deutliches Signal dafür sichtbar, dass
vermutlich Löcher in den Rollen ausgefüllt wurden.1
Eine andere Wurzel des Impulses, die fehlenden Funktionen zu ersetzen,
mag die Hoffnung sein, dass das Ausfüllen der Rolle ihres Vaters und
damit die „Ersatzbefriedigung“ der Kindheits-Bedürfnisse der Mutter
letztendlich dazu führen möge, dass sie hierdurch irgendwann in die
Lage versetzt werde, angemessen als Mutter zu funktionieren, sodass
also der Einsatz des Kindes irgendwann zu ihm zurückkehren möge. Und
vermutlich spielt auch die stellvertretende Befriedigung eine Rolle:
„Dafür, dass ich gut versorgt werde, kann ich wenig tun, dafür, dass
es meiner Mutter besser geht, vielleicht doch, und dann kann ich mich
wenigstens daran freuen.“
All diese strategischen Gesichtspunkte sind aber sekundär gegenüber
dem grundlegenden Gefühl, dass durch das Ausfüllen der Löcher endlich
Gerechtigkeit eintritt, und dieses Gefühl bringt eine tiefe
Befriedigung mit sich, einen click of closure, die Vollständigkeit
einer Gestalt.
Der Preis dafür
Auf längere Sicht bringt diese Dynamik aber schreckliche Kosten für
das Kind mit sich. Eigentlich sollte das Kind erst seinem
Selbst-Interesse folgen können und erst später als Erwachsener
Fürsorge für andere übernehmen. Stattdessen nimmt das Kind sein
Selbst-Interesse zurück und investiert in den anderen auf Kosten der
Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse. Dies ist ein enormer Verlust,
aber auch ein versteckter Gewinn.
Der Verlust besteht darin, dass in diesem Aufgeben des
Selbst-Interesses die Fähigkeit verloren geht, Fürsorge
anzunehmen. Nicht nur fehlt die spezifische Befriedigung, so dass
bestimmte Grundbedürfnisse unerfüllt bleiben, der Effekt ist
umfassender: Statt zu empfangen, wird gegeben, und dies wirkt so, als
ob die Kanäle der Interaktion mit der Außenwelt in ihrer Richtung
umgepolt würden, so dass kein Aufnehmen von Fürsorge mehr möglich
ist. Und so geschieht ein Verlust auf der fundamentalsten Ebene: Die
Verbindung zur Seele mit ihren Impulsen und Bedürftigkeiten geht
verloren.
In der therapeutischen Arbeit zeigt sich dies in einer spezifischen
Form des Widerstandes: Obwohl in den vorhergehenden Phasen der
Struktur deutlich der Schmerz der entbehrten Befriedigung und eine
Sehnsucht danach sichtbar waren, ist der Klient beim Übergang zur
Antidot-Szene nicht in der Lage, das Versorgtwerden durch Ideale
Eltern anzunehmen (oder er verliert die Erfahrung im Anschluss an die
Struktur wieder, kann sie nicht dauerhaft integrieren).
Der versteckte Gewinn liegt in der anderen Seite der fehlenden
Erfahrung einer äußeren Passform. Im Gegenteil ist das Kind ja zur
Passform der bedürftigen Angehörigen geworden, und es entwickelt sich
das grandiose Gefühl: „Ich bin der Retter der Mutter! Ich bin der
einzige, der sie retten kann. Ich bin überhaupt der einzige Versorger
und Retter in dieser Familie, denn niemand versorgt oder rettet mich.“
„There is no other“, es gibt keinen anderen, kein Gegenüber, das ist
der Kernsatz aller Omnipotenz.
Es ist daher nicht selten, dass bei Klienten mit dieser Art
Lebensgeschichte der Schmerz und die Sehnsucht aus der historischen
Szene beim Übergang zur Antidot-Szene unvermittelt sogar in
Überheblichkeit und Zynismus umschlägt: „Ach ja, die Idealen Eltern
schon wieder!“ Nichts ist für sie glaubhaft zu gestalten. Sie greifen
den Therapeuten an, sie greifen die Methode an. Das sind Klienten, die
einen Therapeuten nach dem anderen verschleißen, „Niemand kann mir
helfen, niemand konnte mir bislang helfen“ - und gleichzeitig spürt
man darunter das weinende Kind, das nach Hilfe schreit.
Die „Entität“
Für diese spezielle oder vielmehr verallgemeinerte Art der Omnipotenz
hat Al Pesso den neuen Begriff der „entity“ geprägt. Das Wort ist in
diesem Zusammenhang nicht wirklich übersetzbar; es bedeutet „Dasein,
Wesen, Wesenheit, Ding, Eigenheit, eigenständiges Gebilde“, hat aber
einen etwas anderen Assoziationsgehalt als diese im Deutschen eher
positiv bis neutral–philosophisch verstandenen Worte. Im Folgenden
wird deshalb einfach das Fremdwort Entität verwendet. Im
Amerikanischen ist offenbar der Charakter einer „entity“ unfassbar
eher im Sinne von fremd, unheimlich, nicht ganz geheuer, ähnlich der
Besessenheit mit einem fremden Wesen (in Science-Fiction – Filmen)
oder Dämon, und diese Assoziation ist mit der Wortwahl auch
beabsichtigt.
Gemeint ist mit diesem Begriff das, was sich im Prozess des Ausfüllens
der Löcher aus den Anlagen des Stamm-Selbst entwickelt. Da diese
Entwicklung vor der Zeit provoziert wird, und die versorgenden
Kapazitäten sich nicht im normalen Reifungsprozess herausbilden
konnten, kann es sich nur um ein Fragment, um einen unintegrierten
Teil des Selbst handeln, der förmlich überproportional aufgeblasen
werden muss. Al Pesso verwendet an dieser Stelle die Metapher eines
Aneurysmas, also einer krankhaften, örtlich begrenzten Erweiterung
einer Schlagader, die sich aufgrund einer Schwäche der Gefäßwand unter
dem Druck des Blutes aufbläst wie ein Luftballon. Die winzige Anlage
im Kind, irgendwann im Leben einmal die Rolle eines Vaters
auszufüllen, muss nun im Kindesalter schon die Dimension einer
Vaterfigur für die verwaiste Mutter ausfüllen, also nicht nur eine,
sondern in diesem Fall sogar zwei Generationen „vorrücken“.
Diese Inflation sprengt aber notwendigerweise auch die Bahnen des
Normalen, Menschen-möglichen; die Entität hat einen archaischen,
übermenschlichen, messianischen Charakter. Und in Fällen, wo in einer
Familie viele Löcher zu stopfen waren, wo vielleicht sogar Vertreibung
oder generationenübergreifende ethnische oder religiöse Verfolgung
stattgefunden haben, bekommt die Entität tatsächlich auch diese
Dimension: In dieser Familiengeschichte fehlt der Retter, der Erlöser,
der Messias, der bessere Gott, der all dies nicht zugelassen hätte.
Entität und Widerstand
Auch in weniger extremen Fällen hat aber die Entität dieselbe
unintegrierte, grandiose Qualität. Und dieses Übermenschliche,
Messianische umfasst daher auch immer in gewissem Umfang dämonische,
diabolische Eigenschaften und duldet in eifersüchtiger, aggressiver
Weise keine Konkurrenz neben sich, keinen anderen Retter und
Versorger: „There is no other“ wird zu „I am the only one“. „Ich bin
der einzige, neben mir kann es keinen anderen Erlöser geben, und wenn
es doch jemand versucht (wie die Idealen Eltern, der Therapeut), dann
zerstöre ich ihn.“ Diese dämonische Qualität ist übrigens auch
körpersprachlich ablesbar, ähnlich der Omnipotenz: in einer bestimmten
Art Blitzen in den Augen, einem zynischen Lächeln bis zum triumphalen
Hohnlachen; das Gesicht und die Stirn sehen in den entsprechenden
Momenten so aus, als könnte man förmlich die „Hörner“ des Teufelchens
sehen. Das Ausmaß dieser Aggression ist manchmal so groß, dass sie nur
noch nach außen projiziert werden kann, beispielsweise in Phantasien
von satanischen Kulten und ähnlichem.
An dieser Stelle wird vielleicht noch einmal tiefer das Ausmaß des
Verlustes und der inneren Tragik deutlich: Das, was zunächst aus Liebe
und Mitgefühl entstanden ist, bekommt nun dämonische Züge und wird zum
Feind der Seele und aller Figuren, die auf deren Seite stehen. Der
Klient weiß weder um diese Tatsache (und überhaupt darum, dass seine
Ablehnung der Idealen Figuren mit seinem Ausfüllen der Löcher im
Familiensystem zusammenhängt), noch ist er in der Lage, in Kontakt mit
den Sehnsüchten und Bedürfnissen seiner Seele zu bleiben. Daher kommt
man mit der therapeutischen Arbeit an diesem Punkt auch nicht weiter,
wenn man nur den an dieser Stelle zugänglichen Impulsen des Klienten
folgt: Die Impulse der Entität decken diejenigen der Seele vollständig
zu. Solange der Klient prinzipiell nicht in der Lage ist, etwas
aufzunehmen, hat es keinen Sinn, ihm weitere Angebote zu machen; diese
Fähigkeit muss zuerst wiedererlangt werden.
Auch wäre es an dieser Stelle nicht schlüssig, mit Begrenzung zu
arbeiten, wie sonst bei Omnipotenz. Im Grunde geht es zwar durchaus um
Begrenzung, nämlich des Impulses, die Löcher zu füllen. Da der
Zusammenhang dieses Impulses mit dem gegenwärtigen Widerstand aber
nicht bewusst ist, ebenso wenig wie dieser Impuls selbst, gibt es
keinen Rahmen, in dem die Energie und ihr Ziel definierbar wären und
damit eine Begrenzung in ihrer Bedeutung beschreibbar.2 Auch die
Erfahrung von Grenzen im Sinne einer Befriedigung von
Grundbedürfnissen ist ja im Übrigen etwas, was als Fürsorge von außen
aufgenommen werden müsste.
Wie kann nun der Kontext der „Löcher in den Rollen“ hergestellt
werden, und wie kann die Entität begrenzt werden?
Die Schicht wechseln: Von Defiziten zu Löchern
Wenn man in einer Struktur an einen solchen Punkt gerät, an diese Art
von Widerstand trotz zuvor emotional gespürter Bedürftigkeit oder
Empfänglichkeit, ist es zunächst unerlässlich, den Fokus der
therapeutischen Arbeit zu wechseln: von der zunächst bearbeiteten
Thematik unbefriedigter eigener Bedürfnisse hin zu den Konsequenzen
der Löcher in den Rollen.
Al Pesso unterscheidet hier inzwischen sehr deutlich zwischen
verschiedenen „tiers“ (Ebenen oder Schichten) der therapeutischen
Arbeit, die er wie folgt nummeriert:
- Schicht 1: Die Befriedigung entwicklungsgeschichtlicher Defizite
des Klienten (zu wenig „Input“)
- Schicht 2: Die Bearbeitung der verschiedenen Effekte von
Traumatisierung (zu viel „Input“)
- Schicht 3: Die Arbeit an den Auswirkungen von Löchern in den
Rollen (zu viel bzw. vorzeitiger „Output“)
Wenn also diese Art Widerstand auftritt, der eine Entität
zugrundeliegt, ist ein Wechsel von Schicht Eins auf Schicht Drei
notwendig.3
Wichtig ist, dass an dieser Stelle ein direktives Vorgehen notwendig
ist: der Wechsel zwischen den Schichten muss vom Therapeuten aktiv
eingebracht werden. Al Pesso fragt daher in einem solchen Moment ohne
weiteren Übergang direkt nach: „Für wen hast du gesorgt?“ Und
erstaunlicherweise zeigt die Erfahrung, dass die Klienten darauf
sofort und bereitwillig eingehen, als ob es für sie unmittelbar
einleuchtend wäre, warum diese Frage an dieser Stelle gestellt
wird. Sie brauchen meist nicht lange nachzudenken, um die Löcher
aufzuzählen, die sie in ihrem Familiensystem aufgefüllt haben, und tun
dies plötzlich wieder mit großer Motivation.
Auf diese Art und Weise entsteht in der Struktur eine Historische
Szene auf einer anderen, neu eröffneten Schicht: Diejenigen
Historischen Figuren (bzw. genauer gesagt das Bild, das sich der
Klient aufgrund der gehörten Geschichten von diesen Figuren in ihrer
Vergangenheit gemacht hat, z.B. „dein Bild deiner Mutter als Kind“)
werden dargestellt, für die der Klient gesorgt hat.4 Der Klient kann
formulieren, was diesen Figuren gefehlt hat, und ihm wird bewusst, wie
das Wissen um diesen Mangel bzw. dessen Erleben auf ihn gewirkt
hat. Er kann sein Mitgefühl und den stellvertretenden Schmerz in
vollem Ausmaß spüren, und auch den wahren Umfang seiner Motivation,
dass diese Defizite nicht hätten da sein sollen. Gleichzeitig erhalten
wir auch Informationen darüber, in welcher Weise er für die
bedürftigen Familienmitglieder sorgte, was in der Lebensgeschichte
dieser Personen gefehlt hat, welche spezifischen Löcher also der
Klient für sie ausgefüllt hat.
Eine Struktur auf Schicht Drei
Die nächsten Schritte folgen unmittelbar, in vollständiger
Entsprechung zum üblichen Vorgehen in Strukturen: Wenn wir wissen, was
gefehlt hat, dann haben wir auch die notwendigen Informationen, um
Ideale Figuren zu entwerfen. Diese Überlegung ist hier nur verschoben
von den Defiziten des Klienten selbst hin zu den Defiziten der
Bezugspersonen; der Klient ist nicht Empfänger der Fürsorge der
Antidot-Figuren, sondern Betrachter dessen, wie sie für die
bedürftigen Familienmitglieder gesorgt hätten.
Wenn wir wissen, was diese gebraucht hätten, welche Rollen der Klient
als Kind für sie übernommen hat, dann brauchen wir nur ebendiese
Rollen mit Idealen Figuren besetzen, die anstelle der Entität des
Kindes diese Funktion übernommen hätten. Wir füllen also die „Löcher“
mit den adäquaten Figuren. Hat der Klient die Rolle des Vaters für
seine Mutter übernommen, dann wird ein Idealer Vater für die Mutter
eingeführt in dem Alter, in dem sie ihren Realen Vater verloren
hat. Hat der Klient das Loch gefüllt, das der Verstorbene in der
Beziehung zu seiner Frau hinterlassen hat, so braucht diese, die Reale
Großmutter, einen Idealen Ehemann. Diese Grundüberlegung lässt sich
auf alle Löcher anwenden, die eines nach dem anderen mit Idealen
Figuren gefüllt werden können, nötigenfalls bis hin zu den Extremen:
Fühlt der Klient sich berufen, auf messianische Weise den Weltfrieden
herzustellen, so dass seine Familie nicht unter Elend, Krieg und
Verfolgung gelitten hätte, dann ist eine Ideale Regierung, vielleicht
sogar ein Idealer Gott notwendig, die diesen Krieg nicht zugelassen
hätten, sondern alternative Wege gefunden hätten, Frieden und
Wohlstand herzustellen.
In dieser Phase der Struktur kann man wieder absolut den Impulsen des
Klienten folgen und diejenigen Figuren entwerfen, die für ihn
glaubhaft und in der Lage sind, den Mangel zu beheben. Wir schaffen
Bilder, die der Klient mit seinem realen Auge sehen kann und die das
heilende Gegenstück zu dem sind, was er aufgrund der Erzählungen vor
seinem geistigen Auge gesehen hatte.
Von zentnerschweren Lasten befreit
Der Effekt, den diese Idealen Figuren für die bedürftigen
Familienmitglieder auf den Klienten haben, ist frappierend. Werden
diese Idealen Figuren ins Familiensystem eingeführt, dann ist ja
Gerechtigkeit hergestellt, niemand leidet mehr, alles „stimmt“, der
click of closure ist gegeben. Die Löcher, die früher der Klient mit
seiner Entität füllte, bestehen nicht mehr, sie sind anderweitig
aufgefüllt, sie üben keinen Sog mehr aus.
Der Klient sieht das, und reagiert mit einer tiefen
Erleichterung. Eine zentnerschwere Last scheint ihm von den Schultern
zu fallen – eine Last, von der er zuvor nicht einmal wusste, dass er
sie trug. Die Entlastung und Erleichterung ist so immens, dass sie in
ihrem körperlichen Effekt intensiv sicht- und spürbar ist, ja oft eine
tiefer greifende Wirkung auf der psycho-physiologischen Ebene hat als
manch andere Strukturen mit viel körperlicher Aktion.
Besonders beeindruckend ist die Wirkung, die das Ausfüllen der Löcher
mit Idealen Figuren auf die Entität hat. Anders als bei der Omnipotenz
ist hier so gut wie nie ein Testen, eine körperliche Begrenzung
notwendig, allenfalls erfolgt zusätzlich zum Ausdruck der Fürsorge für
das bedürftige Familienmitglied („Wenn ich damals da gewesen wäre als
der Ideale Vater für deine Reale Mutter als sie ein Kind war, dann
wäre ich da geblieben und hätte für sie gesorgt“) noch eine verbale
Begrenzung des Klienten: „ ... und das wäre nicht deine Aufgabe
gewesen“. Da aber die Entität nicht mehr notwendig ist, weil die
Versorgung anderweitig gesichert ist, verschwindet schlicht und
einfach der Impuls, das Loch zu füllen, und sie zieht sich ohne
weiteres und bereitwillig wieder zurück; die Inflation stürzt in sich
zusammen.
Es ist, als ob alles wieder an seinen richtigen Platz fallen
würde. Nicht nur kann die Entität wieder auf das normale Maß der
Anlagen im Stamm-Selbst zurückgehen, insgesamt kommt der Klient wieder
zu sich, in Kontakt mit seiner Seele. Ein Klient meldete am Tag nach
einer solchen Struktur zurück: „Es ist, als ob ich zum ersten Male in
meinem Körper angekommen wäre. Ich laufe durch die Straßen und stelle
fest, dass ich näher am Boden bin, nicht mehr einen halben Meter über
mir.“
Rückkehr auf die Schicht Eins
Während der Struktur kommt an dieser Stelle, in Reaktion auf das
Antidot für die Schicht Drei, oft mit einem tiefen Aufatmen ein Satz
wie: „Dann wäre mein ganzes Leben anders verlaufen!“ Dies ist ein
deutliches Signal dafür, dass der Klient, nun endlich wieder in
Kontakt mit seiner Seele, jetzt auch in der Lage ist, seine
Aufmerksamkeit zum ersten Male wirklich seinen eigenen Bedürfnissen
zuzuwenden. Auf dieser Basis ist eine ganz andere Bereitschaft und
Fähigkeit vorhanden, sich selbst, die eigene Not und Bedürftigkeit zu
spüren. Zusätzlich ist das Annehmen von Fürsorge nicht mehr mit
irgendwelchen Schuldgefühlen verbunden, die besagen, dass es da ja
andere Familienmitglieder gäbe, die dieser Fürsorge ebenso bedürften,
sie aber nicht bekämen. Im Gegenteil: Für die anderen ist gesorgt,
dann darf auch der Klient es sich gut gehen lassen.
Auf diese Art und Weise ist nun der Weg frei für eine Rückkehr zu der
zuvor offen gebliebenen Antidot-Szene auf der Schicht Eins. Die
Versorgung des Klienten wird dann aber nicht von den mit Idealen
Figuren versehenen Realen Eltern übernommen, was eine magischen Lösung
bedeutete, sondern diese verbleiben in der Antidot-Szene auf der
dritten Schicht, die Idealen Eltern für den Klienten selbst werden
zusätzlich auf Schicht Eins eingeführt. Auch sollte der Klient sich
nicht beispielsweise den Idealen Großvater mit der Realen Mutter
teilen müssen, weil wir sonst in das alte Dilemma zurückkehren würden:
„Entweder ist er für sie da oder für mich, also muss ich
zurückstehen.“ Auch in dieser Hinsicht ist es unerlässlich, zwei
separate Figuren auf den beiden unterschiedlichen Schichten zu
konstruieren: den Idealen Vater für die Reale Mutter in ihrer Kindheit
einerseits, und den Idealen Großvater für den Klienten in seiner
eigenen Kindheit andererseits.
Auf der Schicht Eins werden also, von der Arbeit auf Schicht Drei
ermöglicht, aber von den dort eingeführten Figuren völlig unabhängig,
neue und eigene Ideale Figuren für den Klienten selbst eingeführt. In
einer zuvor nicht gekannten Offenheit kann er diese Figuren nun
annehmen, und wirklich die Erfahrung zulassen und in einer ungeahnten
Tiefe aufnehmen, dass seine eigenen Bedürfnisse auf das Genaueste
befriedigt worden wären.
Barbara Fischer-Bartelmann, Almuth Roth-Bilz
Anmerkungen:
1: Manchmal wird allerdings dieses Mitgefühl auch abgewehrt, und dann
sieht man nur die pure Intensität der durch den bedürftigen Aspekt
ausgelösten Gefühle, die in diesem Fall nur noch unspezifisch als
Übelkeit empfunden werden..
2: Zudem würde eine Begrenzung des Impulses, die Löcher zu füllen,
wohl auch vom Klienten nicht akzeptiert, solange diese Löcher bestehen
bleiben und ihr Vakuum seine Sogwirkung ausübt..
3: Auch wenn es sich im Zusammenhang dieses Artikels um die zweite
bearbeitete Schicht handelt, behalte ich die von Albert Pesso
vorgenommene Numerierung der Schichten bei.
4: Manchmal führt auch ohne eine vorangehende Phase des Widerstandes
eine direkte Entwicklung der Struktur zu dieser Schicht hin, nämlich
in Weiterentwicklung von bedürftigen Aspekten von Realen Figuren, die
bereits in der Wahren oder in der Historischen Szene eingeführt wurden..
Literatur:
Pesso, Albert: Holes in Roles. Article by Albert Pesso for Holes in
Roles Workshops. Mai 2003, www.pbsp.com
Pesso, Albert: Holes in Roles. Mitschriften von verschiedenen
Vorträgen zum Thema (im Rahmen der zweiten Münchner Ausbildung, eines
Abendvortrags in München, einer Experientiellen Gruppe in Heidelberg
und der Supervisoren-Ausbildung in USA), 2002 bis 2004
Pesso, Albert und Boyden-Pesso Diane: Slide Introduction to
Pesso-Boyden System Psychomotor. Power Point Presentation, Franklin,
NH, 1994, ©Al Pesso and Diane Boyden-Pesso