Pesso-Therapie in der Arbeit mit Paaren
Ein Fallbeispiel
Leonhard Schrenker und Barbara Fischer-Bartelmann
Zusammenfassung
Dieser Artikel gibt eine therapeutische Arbeit (Pesso-“Struktur“) mit
einem Klientenpaar in einer akuten Krise (befürchtetes Krebsrezidiv)
wieder. Die verschiedenen Phasen der therapeutischen Arbeit (Wahre
Szene, Historische Szene, Antidot-Szene, Integration) werden wörtlich
dargestellt, so dass man sowohl die Interventionen als auch die
Reaktionen der Klienten Schritt für Schritt nachvollziehen
kann. Einleitend stellt ein kurzer Überblick die verschiedenen
Möglichkeiten dar, mit den Mitteln der Pesso-Therapie an Paar-Themen
zu arbeiten. Kommentare im Verlauf der Struktur erläutern sowohl die
verschiedenen Schritte der Arbeit aus der Sicht der Pesso-Therapie,
als auch die der Paar-Arbeit spezifischen Gesichtspunkte, die an
diesem Fallbeispiel deutlich werden.
Schlüsselwörter: Pesso-Therapie, PBS; Psychotherapie, Paartherapie,
Körperpsychotherapie, Gruppentherapie.
Summary
This article pictures a therapeutic session (Pesso-“Structure“) with a
client couple in an acute crisis situation (feared relapse of
cancer). The different phases of the therapeutic process (True Scene,
Historical Scene, Antidote-Scene, Integration) are represented word
for word, so that the reader can follow both the therapist's
interventions and the clients' reactions step by step. A short
introduction gives an overview on different ways of working with
couple issues in Pesso Boyden System Psychomotor. Theoretical comments
in the course of the structure explain both the different steps of the
process on the background of PBSP theory, and those aspects specific
to couple therapy that are relevant for this case.
Keywords: Pesso-therapy, PBS, Psychotherapy, Couple therapy,
Body-based therapy, Group therapy.
Paararbeit in der Pesso-Therapie
Ein bisher noch kaum dokumentiertes Anwendungsgebiet der
Pesso-Therapie ist die Paartherapie. Die Grundannahme der
Pesso-Therapie, dass die Erfahrungen aus den frühen Beziehungen,
insbesondere unerfüllte Kindheitsbedürfnisse, die gegenwärtigen
Beziehungen prägen, indem sie die Wahrnehmung und das Verhalten
bestimmen und einschränken, gilt auch und ganz besonders für die
Paarbeziehung.
Das hat zum einen mit dem besonderen Charakter der Paarbeziehung zu
tun: Kaum eine andere Beziehung – außer denjenigen in der
Ursprungsfamilie - ist so intensiv und langjährig, selten zeigt man
sich selbst und erlebt man jemand anderen so umfassend in allen
Lebenslagen, auch in seinen Verletzlichkeiten, Nöten und
ungeschminkten Seiten. In kaum einer anderen Beziehung kommt man
einander und sich selbst so nahe, in beglückender Erfüllung tiefster
Sehnsüchte, aber auch in schmerzvoller Verletzung alter Wunden und
kaum minder schmerzhafter Konfrontation mit dem eigenen
„Schatten“. Kaum eine andere Beziehung ist in einem vergleichbaren Maß
Bühne für Übertragungen und Projektionen, für die Vermischung von
Gegenwart und Vergangenheit (Kreppold-Gröger & Kreppold 1998).
Zum anderen deuten die Theorien der Partnerwahl darauf hin, dass man
sich bevorzugt gerade in eine solche Person verliebt, die besonders
dazu „geeignet“ ist, die alten Sehnsüchte und die alten Wunden zu
berühren. Durch die unbewussten Prozesse der Partnerwahl scheinen sich
regelmäßig Partner mit ähnlichen individuellen Dynamiken
zusammenzufinden, mit analogen oder genau komplementären
Bewältigungsmustern derselben Themen, mit Verletzungen in ähnlichen
Entwicklungsphasen (Hendrix 1988 und 1992). Daraus entwickeln sich
Paardynamiken, in denen sich die individuellen Bewältigungsmechanismen
durch ihre Verschränkung miteinander gegenseitig stabilisieren. Beiden
ist das „Stück“, das auf der Bühne der Beziehung gegeben wird,
vertraut, und beide schlüpfen wie von selbst in die ihnen zugedachte
Rolle, und bekräftigen einander gegenseitig in der Vermischung von
gegenwärtiger und lebensgeschichtlicher Realität. Daher ist es
besonders schwer, aus diesen Mustern ohne fremde Hilfe wieder
herauszufinden, wenn sie infolge der langen Beziehungsdauer oder
infolge bestimmter äußerer normativer Krisen (z.B. Erstelternschaft)
oder nicht-normativer Krisen (z.B. Krankheit wie im Fallbeispiel) zu
einem Problem werden.
Die Pesso-Therapie kann hierbei eine besonders effektive Hilfe
bieten. Sie erlaubt es, die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart
zu identifizieren, und ganz gezielt die in die Gegenwart
hineinspielenden „unerledigten Geschichten“ dort zu bearbeiten und zu
heilen, wo ihre Quelle liegt: in der individuellen
Lebensgeschichte. So unterstützt sie das Paar nicht nur dabei, die
eingespielten Muster zu erkennen und loszulassen, sondern macht auch
durch das „Umschreiben“ der historischen Stücke ganz gezielt die
bislang nicht verfügbaren Beziehungsdimensionen zugänglich, so dass
die Partner neu zu gestaltenden „Autoren“ der Zukunft ihrer eigenen
Beziehung werden. Einen Eindruck sowohl von diesem therapeutischen
Prozess als auch von seinen Auswirkungen für die Veränderung in der
Paarbeziehung vermittelt das dargestellte Fallbeispiel.
Grundsätzlich erlaubt es die Methode der Pesso-Therapie, in
unterschiedlichen Settings und Vorgehensweisen mit Paar-Themen zu
arbeiten:
Settings:
- Paarthemen in der Einzelsitzung ohne Anwesenheit des Partners
Eine Struktur (so wird in der Pesso-Therapie die therapeutische Arbeit
eines einzelnen Klienten im Rahmen einer Gruppe, aber auch in einer
Einzeltherapie (Kniep 2004) genannt) ist zunächst einmal ganz einfach
im Rahmen einer individuellen Arbeit möglich, wo die Klientin mit
einem Thema aus ihrer Paarbeziehung einsteigt. In diesem Fall kann die
Bearbeitung von Partnerschaftsthemen ohne Anwesenheit des Partners
erfolgen, man könnte sie als “Paartherapie ohne Partner”
bezeichnen. Die Wirksamkeit dieser Arbeitsweise für diejenige
Klientin, die die Struktur macht, hat im wesentlichen vier Elemente,
die genau so der Arbeit in anderen Settings zugrunde liegen:
Sie kann in der “Wahren Szene” ein genaueres Verständnis ihrer eigenen
Erlebens- und Reaktionsweisen gewinnen: Was geht in diesem Konflikt
mit meinem Partner in mir vor, welche Gedanken und Gefühle spielen bei
meiner Reaktion eine Rolle, nach welchen “Skripten”, welcher “alten
Landkarte” verhalte ich mich etc.
Sie kann in der “Historischen Szene” diejenigen lebensgeschichtlichen
Erinnerungen (autobiographisches Gedächtnis) identifizieren, die diese
“alte Landkarte” haben entstehen lassen, also ihre Wahrnehmung und
ihre Reaktionsweisen als prägende Beziehungserfahrungen beeinflusst
haben: Wo gibt es Parallelen des gegenwärtigen Konfliktes zu früheren
Erfahrungen, was sind die Wurzeln meiner Befürchtungen, warum reagiere
ich an dieser Stelle besonders empfindlich, woher stammen meine
Wahrnehmungsraster und Verhaltensstrategien, wo habe ich gelernt, mich
so zu verhalten bzw. Alternativen hierzu gar nicht erst
auszuprobieren.
Sie kann als wesentliches, der Pesso-Therapie spezifisches Wirkelement
in der “Heilenden Szene” zu diesen Erinnerungen alternative
Interaktionserfahrungen mit symbolischen primären Bezugspersonen
konstruieren. Diese ersehnten Erfahrungen können auf kognitiver,
auditiver, taktiler und sensomotorischer Ebene verankert und in ihrer
Bedeutung verinnerlicht werden. Aus der so hergestellten synthetischen
Erinnerung an eine hypothetische Vergangenheit, so wie es damals (dem
evolotionären Gedächtnis entsprechend) eigentlich hätte sein sollen,
entsteht eine “neue Landkarte”.
Diese neue Landkarte kann nach ihrer Integration die Orientierung im
Beziehungsgeschehen im Hier und Jetzt ähnlich tiefgreifend
beeinflussen, wie es die alte getan hat. Aufgrund der engen
Verknüpfung von Erinnerung und Wahrnehmung (Pesso 2004) lässt sie den
aktuellen Konflikt in neuem Licht erscheinen , bietet eine neue
Grundlage für Selbstwertgefühl und Autonomie und eine Basis für
positive Antizipationen und konstruktive Verhaltensweisen, die den
aktuellen Beziehungskonflikt auf neue Wege führen können.
Häufig wird die Integrationsphase im Fall einer Einzelstruktur nicht
explizit ausgeführt. Im Fallbeispiel (in Anwesenheit des Partners)
gibt der Therapeut hierfür viel Raum, so dass es möglich ist, nicht
nur die ersten drei Schritte zu verfolgen, sondern auch zu beobachten,
in welcher Weise sich Wahrnehmung und Verhalten in der Paarbeziehung
auf dem Hintergrund der heilenden Beziehungserfahrung verändern. Die
Erfahrung der Bedürfnisbefriedigung durch die Idealen Eltern in der
passenden Altersstufe öffnet den Weg nicht nur zur Integration der
bisher abgespaltenen oder projizierten eigenen Anteile, sie bietet
auch Basis und Modell dafür, auf das entsprechende Bedürfnis des
Partners in neuer und angemessener Weise zu reagieren.
Wenn der Partner im Gegensatz zum Fallbeispiel in der Einzeltherapie
nicht in diesen Prozess einbezogen ist, bleiben allerdings viele
zusätzliche Potentiale der Pesso-Arbeit ungenutzt, die weiter unten
für den Fall seiner Anwesenheit dargestellt werden. Abgesehen davon,
dass er nicht seinerseits Impulse für seine Entwicklung erhält und es
damit schwerer wird, aus der alten Paar-Homöostase auszubrechen, lernt
er auch nichts über seine Partnerin und hat so keine Chance, wieder
auftretende ähnliche Konflikte auf dem mit ihr erarbeiteten
Hintergrund zu verstehen und so auch von seiner Seite aus anders damit
umzugehen, beispielsweise Verletzlichkeiten auf ihrem
lebensgeschichtlichen Hintergrund einordnen zu können und anders
darauf zu reagieren. Selbst wenn die Klientin ihm aber rückblickend
von ihrer Struktur berichtet, so ist die Arbeit in ihrer Komplexität
und emotionalen Intensität im Erzählen nur schwer vermittelbar und
würde zudem für einen therapieunerfahrenen Partner möglicherweise
befremdlich wirken.
- Einzelarbeit in Gegenwart des Partners
In der Paargruppe, aus der das Fallbeispiel stammt, wird daher
üblicherweise eine Einzelstruktur gemacht, bei der der Partner einfach
als Gruppenmitglied anwesend ist. Er wird so Zeuge der Struktur seiner
Partnerin und kann die damit verbundenen intensiven Prozesse
unmittelbar miterleben. In diesem Fall wird ihm anschließend an die
Struktur als Erstem die Gelegenheit gegeben, auf das Geschehen zu
reagieren und in der Runde des Teilens seine eigenen gefühlsmäßigen
Reaktionen in Worte zu fassen – nicht aber die Arbeit seiner Partnerin
zu kommentieren oder Feedback dazu zu geben. Aus diesen Reaktionen
kann sich allerdings der thematische Einstieg für eine spätere
Einzelarbeit auf seiner Seite entwickeln.
Dieses Miterleben der therapeutischen Arbeit des jeweils anderen kann
das Verständnis für die lebensgeschichtlichen Wurzeln seiner / ihrer
Reaktion sehr vertiefen und allein dadurch schon ein wohlwollenderes,
mitfühlenderes Umgehen miteinander ermöglichen. Zusätzlich ist es für
den zusehenden Partner oft sehr entlastend, die in einer Stuktur
erfolgende Zurücknahme von Projektionen und Übertragungen
mitzuerleben, und seine Partnerin unverstellt in den oft verborgenen
verletzlichen, zärtlichen, aber auch kraftvollen und vitalen Seiten zu
sehen, die in aller Regel als sehr liebenswert empfunden werden und
neue Intimität schaffen. Selbstverständlich setzt dieses Setting
allerdings ein Minimum an Vertrauen zwischen den Partnern voraus, so
dass nicht nur Therapeut und Gruppe, sondern auch der nicht arbeitende
Partner in der Lage sein müssen, eine “Möglichkeitssphäre” zu
schaffen, in der sich die Protagonistin (Klientin die an ihrem Thema
in der Gruppe arbeitet) ihrem inneren Prozess widmen kann ohne die
Angst, damit bloßgestellt zu werden oder diese intimen Informationen
in einem späteren Streit gegen sich verwendet zu sehen.
- Paararbeit
Schließlich ist es auch möglich, dass beide Partner parallel
zueinander in einer Paarstruktur arbeiten. Hierfür wird dann ein
Zeitrahmen benötigt, der doppelt so lang ist wie derjenige einer
Einzelstruktur, also ca. 100 Minuten. Jeder Partner behält hierbei die
Autonomie über seine jeweils eigene Struktur, definiert und platziert
die eigenen Figuren. Die Wahren, Historischen und Antidot-Szenen
beider Partner stehen aber gleichzeitig im Raum, so dass sich durch
ihre Zusammenschau, manchmal sogar durch die Nähe bestimmter Figuren
zueinander neue Einsichten ergeben können: Die Verschränkung der
beiden psychischen Strukturen und damit die gesamte dem Konflikt
zugrunde liegende Paardynamik (Fischer-Bartelmann 2003) ist oft sehr
plastisch sichtbar. Da der Therapeut dem Prozess der Klienten folgt,
ist dies nicht zwangsläufig der Fall; es können auch voneinander
unabhängige Themen Gegenstand von zwei weitgehend unabhängigen
Strukturen werden. Wenn sich die Paararbeit aber, wie auch im
Fallbeispiel, um ein und dasselbe Thema entwickelt, bekommen beide
Partner einen vollständig neuen, umfassenden Blick für ihr
Beziehungsgeschehen und werden hierdurch in die Lage versetzt, die der
Paarkonstellation spezifischen Konfliktdynamik schnell zu erkennen,
konstruktiv zu unterbrechen und aus einem tiefen Verständnis
füreinander Alternativen zu ihren bisherigen Verhaltensmustern zu
finden (Dormann 2004).
Wie auch in einer klassischen Einzelstruktur wird der Therapeut der
jeweils höchsten Energie folgen, was bei einer Paarstruktur auch
heißen kann, bei einer starken emotionalen Reaktion des Partners auf
die Arbeit seiner Frau den Fokus zu seiner Seite zu wechseln und seine
Struktur weiterzuentwickeln, und erst später (nach Abschluss dieser
Struktur oder nach einer starken Gefühlsreaktion der Frau) wieder an
dem Punkt anzuknüpfen, an dem ihre Struktur stehen geblieben war,
unter Einbezug der neuen Informationen daraus, was seine Arbeit bei
ihr ausgelöst hat. In der Phase der Wahren Szene wird im Fallbeispiel
dieses wechselnde Verfolgen („Microtracking“, Bachg 2004) des
Prozesses beider Partner sehr deutlich sichtbar.
Anders als im Fallbeispiel kann man bei ausreichender Zeit bei beiden
Partnern die Erlebensweisen des aktuellen Konflikts zu ihren
jeweiligen lebensgeschichtlichen Wurzeln verfolgen. Hieraus kann dann
für jeden der Partner ein heilendes Gegenbild (“Antidot”) zu den im
Partnerschaftskonflikt relevanten frühen Beziehungserfahrungen
entwickelt werden, so dass dann beide in der Integrationsphase aus dem
Kontakt mit den Idealen Figuren heraus prüfen und erfahren können,
welche neuen Perspektiven sich für ihren gegenseitigen Kontakt
eröffnen. Im Fallbeispiel kann man sehr deutlich verfolgen, um wieviel
leichter die Öffnung gegenüber neuen Interaktionsmustern auf der Basis
einer eigenen Antidotszene fällt, dass sie aber auch durch den
entsprechenden Prozess bei nur einem Partner bereits möglich ist.