Barbara Fischer-Bartelmann
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Einführung in die Pesso-Therapie

Barbara Fischer-Bartelmann


Was ist Pesso-Psychotherapie?

Auf diese Frage gäbe es durchaus eine relativ kurze und korrekte Antwort: "Pesso-Therapie (international bezeichnet als Pesso Boyden System Psychomotor, PBSP) besteht im Wesentlichen aus der systematischen Konstruktion heilender synthetischer Erinnerungen auf sowohl kognitiver als auch körperlich-emotionaler Ebene." Ohne zusätzliche Erklärungen ist dieser Satz aber nicht besonders verständlich. So behelfe ich mich oft auf die Kürze mit der deutlich ungenaueren Aussage: "Pesso-Therapie vereint in sich Elemente aus Tiefenpsychologie, Psychodrama, kognitiver Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Familienskulptur, Körpertherapie, Hypnotherapie und Gesprächspsychotherapie."

Anklänge an andere psychotherapeutische Verfahren

Richtig an dieser Beschreibung ist, dass Therapeuten aller dieser Richtungen wesentliche Teile ihres Ansatzes in der Pesso-Therapie wieder entdecken und dort weiterentwickelt sehen. Analytiker finden die Bearbeitung von Übertragung und unbewussten Prozessen wieder, die Veranschaulichung von Objektbeziehungen, das Herausarbeitender Bedeutung früher Beziehungserfahrungen für das gegenwärtige Leben; Adlerianer entdecken die Analyse des Lebensstils oder die Rückführung irriger Nahziele auf dieeigentlich dahinter liegenden Bedürfnisse, Jungianer oft archetypisch anmutende Figuren und Konstellationen in der Idealen Szene. In der Pesso-Therapie wie im Psychodrama ist die Arbeit in der Gruppe und die ritualisierte Besetzung von Figuren mit Rollenspielern üblich, die einem einzelnen Protagonisten die Bearbeitung seines Themas ermöglichen. Wie in der kognitiven Verhaltenstherapie wird der innere Dialog bewusst gemacht und seine Veränderung als Zugang zur Verhaltensänderung begriffen. Wie in der Gestalttherapie wird dieser innere Dialog in einem äußerlich dargestellten dramatisiert. In der Familientherapie wird wie in der Pesso-Therapie dieräumliche Anordnung von Figuren oder Gegenständen in einer Familienskulptur als Diagnose- und Interventionsmöglichkeit für Beziehungsdynamik angewandt und die Bedeutung von systemischen Einflüssen aus der Ursprungsfamilie, ja sogar aus vorangegangenen Generationen bearbeitet. Die Gemeinsamkeit mit der Körpertherapie besteht in der zentralen Bedeutung des Körpers als Quelle von Information, als Ausdrucksmöglichkeit innerer Zustände über das rein verbal Zugängliche hinaus und als Zugangsweg neuer, positiver Erfahrungen. Die Betonung dieser positiven Bilder, Phantasien oder Antizipationen als zentrales Wirkelement hat die Pesso-Therapie mitder Hypnotherapie gemein. Und wie in der Gesprächspsychotherapie geschieht all dies in einer respektvollen, klientenzentrierten und ressourcenorientierten Weise, dievoller Wertschätzung und zugleich klar abgegrenzt ist und dem Klienten die volle Autonomie über seine Schritte überlässt. Zusammenfassend könnte man die Pesso-Therapie also durchaus als Mischung all dieser Ansätze beschreiben.

Unabhängige Entwicklungsgeschichte

Irreführend an dieser Beschreibung ist, dass es sich bei der Pesso-Therapie weder um eine Mischung noch um eine Weiterentwicklung eines oder mehrerer dieser Ansätzehandelt. In diesem Falle wäre es wohl auch kaum denkbar, dass Therapeuten so unterschiedlicher, ja teilweise gegensätzlicher Richtungen sich in dieser Methode so sehrwieder finden und davon bereichert fühlen könnten. Das Faszinierende ist, dass die Pesso-Arbeit nicht nur unabhängig von all diesen Therapieformen entstanden, Al Pessoselbst sagt manchmal "entdeckt worden" ist, sie war zu Anfang nicht einmal als eine Form der Psychotherapie gedacht. Sie ist entstanden aus der genauen Beobachtung -und hierin ist Al Pesso ein Meister -, aus der Beobachtung von Körperausdruck. Alles Weitere, was in diesem Artikel geschrieben steht, sollte man immer vor diesem Hintergrund lesen, jede noch so komplexe Theorie: Im Idealfall überprüft der Therapeut jede, buchstäblich jede einzelne Intervention anhand des Feedbacks, das er aus der Beobachtung der Körperreaktionen erhält, und lässt sich von diesen Informationen leiten. Hierin liegt wohl auch ein Grund dafür, dass die Arbeit auf Beteiligte und Betrachter ungeachtet ihrer therapeutischen "Schule" so evident wirkt. Jedenfalls möchte ich in diesem Artikel gerne für die Leser nachvollziehbar machen, wie die Pesso-Arbeit entstanden ist und sich entwickelt hat, so dass auch deutlich werden kann, wie die verschiedenen Elemente der Arbeit aufeinander aufbauen und was den "Kern" und die innere Logik der Pesso-Therapie ausmacht. Im Laufe der über 40-jährigen Entwicklungsarbeit ist die Methode ständig verfeinert worden. Später eingeführte Techniken, z.B. zur stärkeren Einbeziehung des Klienten in therapeutische Entscheidungen oder zur Stärkung der alltäglichen Relevanz der Arbeit und des Transfers ins gegenwärtige Leben, sind für sich genommen oft schon so beeindruckend, aber auch komplex, dass sie die Aufmerksamkeit derjenigen, die heutzutage erstmals in Kontakt mit dieser Methode kommen, beinahe von deren Zentrum ablenken. Deshalb folgen Sie mir zurück zu den Anfängen der Pesso-Arbeit, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Vom Tanz zur Psychotherapie

Reflektorische, willentliche und emotionale Bewegung

Al Pesso und Diane Boyden Pesso waren ursprünglich professionelle Tänzer und traten in New York mit berühmten Ensembles modernen Tanztheaters auf. Diese Karrieremussten sie zugunsten ihrer Kinder aufgeben, sie zogen um in die Gegend von Boston und lebten von der Ausbildung von Tänzern, weiterhin mit Schwerpunkt auf modernem Tanz, kreativer Bewegung und experimentellen, ausdrucksorientierten Improvisationen und Choreographien. Als Lehrer konzentrierten sie sich auf die Frage, wiedie Tänzer in die Lage versetzt werden konnten, ihre Empfindungen, Bilder, Ideen und Visionen dem Publikum überzeugend mitzuteilen. Lange Zeit galt ihr Interesse der Frage, wie Bewegung überhaupt entsteht. Neben dem reflektorischen motorischen System und dem willentlichen, nach außen gerichteten und zielorientierten Bewegungssystem entdeckten sie das emotionale Bewegungssystem, das innere Befindlichkeiten und Bedürfnisse zum Ausdruck bringt. Im Zusammenhang mit diesem emotionalen Bewegungssystem machten sie eine interessante Entdeckung: Auch von noch so geschulten Tänzern ließen sich emotionale Bewegungennicht durch willentliche Bewegungen ersetzen oder überzeugend nachahmen: Wem die entsprechende Emotion unzugänglich war, dessen Darstellung blieb auch in der Wirkung auf das Publikum steril. Wie aber konnte die entsprechende emotionale Bewegungsqualität zugänglich gemacht werden? Eine weitere Frage entstand im Zusammenhang mit Experimenten mit dem frei improvisierten körperlichen Ausdruck von Spannungen und Aggressionen. Wiederholtmachten die Pessos die Beobachtung, dass die Umsetzung dieser Emotionen in Bewegung für sich allein genommen offenbar keineswegs eine Befreiung oder Entspannungbrachte, wie ursprünglich erhofft. Im Gegenteil war bei den Gruppenmitgliedern häufiger sogar ein Verlust an Energie zu beobachten, bis zu dem Extremfall, dass einzelne Teilnehmer gegen Ende der Übungszeit auf dem Boden kauerten und sich monoton selbst wiegten. Warum war das so? Wie ließe sich der emotionale Ausdruck so einbetten, dass er als befriedigend, befreiend, erleichternd erlebt würde?

Die Einführung der Interaktion

Der entscheidende Schritt, der in beiden Punkten den Durchbruch brachte - und nach wie vor die Basis von vielerlei Pesso-Interventionen auf den unterschiedlichsten Ebenendes therapeutischen Prozesses bildet -, war die Einführung von Interaktion. Der Grundgedanke bestand darin, den Emotionsausdruck bzw. die emotionale Bewegung aus der Einzelsituation (um die es sich ja auch beim parallelen Agieren von je für sich allein arbeitenden Gruppenmitgliedern im Wesentlichen handelt) herauszunehmen: Der sich Ausdrückende sollte ein Gegenüber haben. Anfangs geschah dies eher improvisiert und kurzfristig: Wenn ein Gruppenmitglied bemerkte, dass in seine Richtung eine emotionale Bewegung ausgeführt wurde, unterbrach es kurzzeitig seine eigene Arbeit, um auf diesen Ausdruck zu reagieren, bevor es mit seinen eigenen Explorationen fortfuhr. Sehr bald wurde aber die Bedeutung dieser Reaktionen erkannt, so dass sie zunächst in Partnerarbeit, später im Rahmen der gesamten Gruppe organisiert wurden: Je eine Person wurde als diezentrale Person, als Protagonist, definiert, und die Aufgabe des oder der anderen war die Bereitstellung der Interaktion, bevor sie selbst als zentrale Person an die Reihe kamen. Welcher Art sollte aber nun die Reaktion des Partners oder der anderen Gruppenmitglieder sein? Die Pessos baten sie darum, in einer zur Ausdrucksbewegung passenden Weise zu reagieren. Damit ist weder ein Spiegeln des Ausdrucks gemeint (die Erwiderung eines aggressiven Ausdrucks mit einem ebensolchen) noch eine von eigenen Bedürfnissen bestimmte Reaktion darauf (z.B. Ausweichen oder Vergelten) oder eine Bewertung (Empörung, Belustigung, Anfeuern). Als "passend" ist eine solche Reaktiondefiniert, wie sie der Intention der Ausdrucksbewegung entsprechen würde. Ein aggressiver Tritt oder Hieb beispielsweise will einen Gegner treffen und ihm Schmerz zufügen, ihn verletzen oder auf Abstand bringen. Selbstverständlich wurden diese Bewegungen nur in die Luft ausgeführt, ohne direkten Körperkontakt und in sicherem Abstandzur anderen Person. Dennoch hatte diese die Aufgabe, sich mit erschrockenem oder schmerzerfülltem Gesicht und Laut so zu bewegen, als habe sie der Hieb tatsächlich inder beabsichtigten Weise erreicht. Ein sehnsüchtiges Ausstrecken der Arme dagegen wurde entsprechend mit liebevoller Annäherung erwidert, ein erschöpftes Niedersinkenmit unterstützendem Halt, ein ängstliches Ducken mit schützendem Bergen, ein Schluchzen mit verständnisvoller oder tröstender Umfassung. Diese Art der Beantwortung der emotionalen Bewegung, von den Pessos Akkommodation genannt, ist auch in der heutigen Strukturarbeit ein zentraler Faktor und die Aufgabe aller Rollenspieler. Anfangs wurde ihre genaue Ausführung der Improvisationder Akkommodatoren überlassen, später aber immer weiter verfeinert und in die autonome Entscheidung des Protagonisten gegeben. Der Therapeut wird ihn ermutigen, ganz genau anzugeben, wie die Reaktion aussehen soll: Timing, Intensität, Tempo und Richtung einer Bewegung, Ton und Lautstärke der Stimme, der Ort einer Berührung, die Festigkeit des Drucks bis hin zur millimetergenauen Positionierung der einzelnen Finger können die Glaubhaftigkeit und den befriedigenden Charakter der Akkommodation beeinflussen. Erst wenn sie dem inneren Erwartungsbild ausreichend entsprechen, bewirken sie in vollem Ausmaß den erwünschten emotionalen Effekt.

Negative Akkommodation

Negative Figuren bieten so genannte negative Akkommodation auf den Ausdruck von Zorn, Wut, Empörung, Aufbegehren. Wie bereits beschrieben reagieren sie mitdem Ausdruck von Erschrecken oder Schmerz, Getroffensein, Zurückweichen, Hinfallen, Sichwinden bis hin zum völligen Leblos-Daliegen, je nach Wunsch und in Entsprechung zum emotionalen Ausdruck der zentralen Person. Eine schon früh eingeführte Verfeinerung der negativen Figuren besteht darin, dass sie genauer benannt werden alsnegativer Aspekt eines bestimmten Menschen, so dass dieser nie in seiner Gesamtheit als negativ bezeichnet wird. Besonders bei einer Mischung verhasster und geliebter Aspekte in einer realen Person erlaubt es diese Rollenbeschreibung, die sich sonst in ihrer Ambivalenz gegenseitig blockierenden Affekte auf unterschiedliche Adressaten zu lenken, so dass der Zorn gezielt und ausschließlich in der negativen Akkommodation des negativen Aspektes Befriedigung erfährt, während der geliebte Anteil der entsprechenden Person davon unberührt bleibt. Der Protagonist macht hierdurch die Erfahrung, dass diese Emotionen erlaubt sind, in sicherer Weise ausgedrückt werden können und inder Außenwelt einen steuerbaren Effekt haben, also weder verpuffen noch eine unerwünschte und unkontrollierbare Katastrophe nach sich ziehen. Hieran wird auch deutlich, dass die Bedeutung der negativen Akkommodation weit über eine reine Katharsis hinausgeht. Sie erlaubt das Bewusstwerden dieser Emotionen ohne Beschämung, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und einer Perspektive, dass und wie Aggressionen u.Ä. im Dienste des Ich eingesetzt werden und in dieses integriert werden können. Bei gelungener negativer Akkommodation reagiert die zentrale Person zunächst manchmal überrascht, dann oft mit gesteigerter körperlicher Intensität, so dass mit Hilfe haltender Figuren (eine spätere Entwicklung) die Aggression in all ihrer Tiefe vollständig und alle Kräfte in Anspruch nehmend zum Ausdruck gebracht werden kann. Dies geschieht meist mit Bestimmtheit, wenn nicht sogar in einem gewissen Maß lustvoll, nicht in einem verzweifelten Ringen, da immer die Befriedigung präsent ist, mit dieser Anstrengung den erwünschten Effekt zu erzielen. Nach dem vollständigen Ausdruck (und der endgültig erreichten gewünschten Position des Akkommodators) entsteht sichtbareine tiefe Befriedigung, ein Gefühl der Befreiung, des Stolzes, der wieder gewonnenen Integrität, und bei aller körperlichen Erschöpfung der gesteigerten Vitalität.

Positive Akkommodation

Positive Akkommodation wird von positiven Partialfiguren (haltende, unterstützende, validierende, schützende Figuren) und im weiteren Verlauf einer Struktur vonden Idealen Figuren geboten. Ihre Aufgabe ist die symbolische Befriedigung von Bedürfnissen der Protagonisten, und dies geschieht oft (aber nicht ausschließlich) in Formvon Körperkontakt. Auch hier ist es wichtig, dass die zentrale Figur die genaue Regie über die Reaktion der Akkommodatoren und die Art des Kontakts hat und nicht frei improvisiert wird. Die Genauigkeit der Ausführung stellt sicher, dass die Bedeutung des Kontakts dem Bedürfnis entspricht: dass er wie gewünscht als unterstützend, nicht aberfordernd, als haltend, nicht aber kontrollierend oder einengend etc. empfunden wird. Ebenso wie bei der negativen Akkommodation ist ein wesentlicher Effekt der positiven Akkommodation die Erlaubnis für die ausgedrückten Gefühle und Bedürfnisse, sie können empfunden und mitgeteilt werden. Sie werden vom Gegenüber angenommen undangemessen beantwortet und treffen nicht auf Ablehnung oder Beschämung, Überfordertsein oder Missinterpretation. Diese korrigierende emotionale Erfahrung erlaubtnicht nur die Integration der oft abgewehrten oder verschobenen Emotionen und Bedürftigkeiten, sie dient als Modell der Selbstfürsorge und der generell möglichen Befriedigung von Bedürfnissen in Beziehungen und stärkt damit die Hoffnung und Offenheit, dies auch in der realen Welt für möglich und erreichbar zu halten. Als Modell für diesepositive Erfahrung braucht außerdem nicht auf beinahe übermenschliche Weise der Therapeut allein zu dienen, und sie braucht nicht auf einer realen Beziehungsebene zu geschehen - beides entlastet ungemein die therapeutische Beziehung. Gelungene positive Akkommodation hat gelegentlich einen paradoxen Effekt: Es entsteht ein vermehrter Schmerz darüber, die nun erfahrene Beantwortung der Bedürfnisse so lange oder in bestimmten entscheidenden Situationen entbehrt zu haben; erst vor dem Hintergrund dieser positiven Erfahrung kann das früher abgewehrte Leiden wieder als solches empfunden werden. Manchmal besteht auch eine Skepsis, ob die positiven Akkommodatoren wirklich zuverlässig sind, und deren Glaubhaftigkeit wird erst durch bewusstes Austesten der Vertrauenswürdigkeit des Kontaktes oder Haltes erlebbar. Manchmal wird die zentrale Person zögern, von ihnen wirklich das zu erbitten, was den inneren Empfindungen entsprechen würde, und gelegentlich ist hierfür auch die Zusammenarbeit mehrerer Rollenspieler nötig, um die einzelnen nicht zu überfordern. Wenn die Akkommodation stimmig und glaubhaft ist, kann man dies unmittelbar an Körper und Gesichtsausdruck ablesen: ein trancehafter Ausdruck von Entspannung, Zufriedenheit bis hin zu intensivem Glück, kindlicher Gelöstheit und Weichheit, ein Leuchten in den Augen und ein tiefes, inneres "Ja, so ist es richtig, so soll es sein!". Interessant ist, dass hier wie auch bei der negativen Akkommodation nach einer gewissen Zeitdes Auskostens ein natürlicher Endpunkt erreicht wird, eine "Sattheit", ein "So, das war es, jetzt bin ich da, wo ich hin wollte!".

Das Tor zur Geschichte

Die Technik der Akkommodation beantwortete also beide anfangs gestellten Fragen: Der Ausdruck von Gefühlen in emotionaler Bewegung wird dann sowohl zugänglichals auch befriedigend, wenn er auf die gewünschte Resonanz stößt, mit der zusammen er eine vollständige Gestalt bildet. Bleibt diese Antwort aus, wird der Ausdruck als unbefriedigend, frustrierend, als vergebliches Mühen erlebt, wofür bald auch die Kraft ausgeht. Kann eine passende Reaktion nicht einmal als Möglichkeit antizipiert werden, dann ist der entsprechende Ausdruck und damit in der Regel auch die entsprechende Gefühlsregung kaum oder nicht mehr zugänglich; die jeweilige Emotion oder Bedürftigkeit wird abgewehrt oder abgespalten. Allein diese Beobachtungen gehen schon weit über das rein Tänzerische hinaus, und es wurde sehr schnell deutlich, dass die Tänzer, für die die Pessos ein ganzes System von Übungen entwickelt hatten, hieraus nicht nur technisch, sondern in großem Masse als Personen profitierten und in ihrem emotionalen Spektrum und in ihrer Lebenszufriedenheit hinzugewannen. Ein weiterer, zunächst unerwarteter Effekt machte jedoch endgültig deutlich, dass inder Tat eine Methode der Psychotherapie im Entstehen begriffen war: Im Erleben der Akkommodation geschah es regelmäßig, dass die jeweiligen zentralen Personen spontansehr lebhafte Erinnerungsbilder hatten: Bei der negativen Akkommodation tauchten Erinnerungen an Szenen auf, wo sie sich in diesem Masse außer sich erlebt hatten, wo siebeschämt, angegriffen, extrem frustriert worden waren und in der Regel ihre Wut oder Verzweiflung entweder nicht oder ohne Erfolg hatten zum Ausdruck bringen können. Beim Erfahren von positiver Akkommodation stellten sich häufig Verbindungen her zu Situationen, wo die jeweilige Funktion schmerzhaft entbehrt worden war, wo der Protagonist in seiner Geschichte in seinen Bedürfnissen nicht gesehen, fehlinterpretiert oder im Stich gelassen worden war. Sehr häufig schloss sie sich an negative Akkommodation an, da diese für sich allein genommen noch keine Antwort auf die Frustration, die Entbehrung bot, die die aggressiven Gefühle ursprünglich ausgelöst hatte. Noch eklatanterist die Verbindung zur Lebensgeschichte bei den Ausdrucksbewegungen, wo es der zentralen Person nicht einmal möglich war, sich eine positive Reaktion zum Beispiel auf den Ausdruck sehnsüchtig ausgestreckter Hände vorzustellen - das legt schon beinahe zwingend die Schlussfolgerung nahe, dass sie diese Reaktion auch in ihrer Entwicklungsgeschichte nicht erlebt hat. Die Lebensgeschichte mit ihren Interaktionserfahrungen definiert als Lerngeschichte die Skripten, die Antizipationen möglicher Reaktionen, dasinnere Modell der interpersonalen Welt, und diese wiederum bestimmen die Auswahloptionen eigenen Verhaltens und letztendlich die Filter des bewusstseinsfähigen Erlebens. Auch der umgekehrte Weg erwies sich als gangbar: Gefühle, die in der Realität bestimmter Situationen in der Vergangenheit weder empfunden noch ausgedrückt werden konnten, wurden beim Neuinszenieren dieser Situation unter Einbeziehung von Akkommodation zugänglich. Neue Interaktionserfahrungen sind also in der Lage, die Lerngeschichte zu ergänzen und die daraus entstandenen Schlussfolgerungen zu verändern.

Synthetische Erinnerungen und die Figuren der Idealen Eltern

Von dieser Erkenntnis war es nur noch ein kleiner Schritt hin zu dem letzten Element, das noch fehlte zum Kern der Strukturarbeit, wie sie bis heute die Pesso-Therapie ausmacht. Wenn sich herausstellt, dass die erbetenen Akkommodationen mit fehlenden Beziehungserfahrungen in der Lebensgeschichte zusammenhängen, sozusagen alte Lücken auffüllen; wenn die zentralen Personen in ihren Assoziationen die zeitliche Ebene hin zu ihrem kindlichen Erleben wechseln konnten und dies oft spontan vollzogen; wäre es dann nicht sinnvoll, auch die Akkommodation selbst auf die Zeitebene der Vergangenheit mitzunehmen? Könnte es dann nicht möglich sein, die Akkommodation nicht als eine Erfahrung im Hier und Jetzt aufzunehmen - "Wenigstens jetzt erlebeich nachträglich das, was mir damals so fehlte" -, sondern als Modell einer Interaktion, wie sie damals hätte stattfinden sollen, den wieder erlebten kindlichen Bedürfnissen eine Beziehungserfahrung im Dort und Damals gegenüberzustellen: " Jetzt kann ich mit Leib und Seele erleben, wie es sich damals angefühlt hätte, wenn jemand auf mich so reagiert hätte, wie ich es gebraucht hätte"? Implizit und unwillkürlich hatten wohl viele Protagonisten diesen Übergang ohnehin gemacht, und ich vermute, dass dies mit denkorrigierenden emotionalen Erfahrungen in vielen Therapieformen ebenso geschieht. Dieser Wechsel der Zeitebenen, die Integration der Erfahrungen mit den Akkommodatoren als heilender Szene auf der Ebene des erinnerten kindlichen Erlebens, ließe sich gezielt gestalten, und dies ist mit dem Ausdruck " systematische Konstruktion synthetischer Erinnerungen " gemeint. Häufig handelt es sich natürlich um elterliche Funktionen, die in der Vergangenheitnicht ausreichend wahrgenommen worden waren. Das Erleben der positiven Akkommodation, Beobachtungen gelingender Eltern-Kind-Interaktionen oder auch das eigene Bemühen als Vater oder Mutter können zum Vorbild dafür dienen, wie ein Vater, eine Mutter damals idealerweise mit dem Kind hätten umgehen können, quasi als ob man die Geschichte von vorne schreiben könnte 1. Die Pessos begannen, diese innere Einordnung gezielt anzuregen und zu formalisieren, zum Beispiel durch die Definition derentsprechenden Rollen als Idealer Vater, Ideale Mutter, und später, als mehr mit Sprache gearbeitet wurde, mit der Einführung der von ihnen gesprochenen Sätze in derhypothetischen Vergangenheit: "Wenn ich damals da gewesen wäre, dann hätte ich nie zugelassen, dass...", "Wenn ich damals dein Vater, deine Mutter gewesen wäre, und es wäre dies und das geschehen, hätte ich..." Diese manchmal zunächst als verwirrend oder vermeintlich das Erleben des Protagonisten als störend erlebte Formulierung hatgenau die Funktion, die zeitliche Einordnung der heilenden Erfahrung in der Vergangenheit sicherzustellen. Selbstverständlich kann die synthetische Erinnerung die reale Geschichte nicht ungeschehen machen, aber sie kann als alternative Prägung mit allen Konsequenzen für das Bild der Welt und das Bild des Selbst neben der ursprünglichenstehen. Hierin liegt auch das zentrale, das spezifische Heilungs- und Wirkungsmodell der Pesso-Therapie: Wie wir annehmen (und das ist Konsens fast aller Therapierichtungen), haben die realen Beziehungserfahrungen in der Lebensgeschichte, vor allem inder Kindheit, die beschriebene Breitenwirkung auf das gegenwärtige Erleben und Verhalten. Dann sollte aber auch eine ebenfalls in der Vergangenheit, vorzugsweise im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen angesiedelte heilende Erfahrung eine vergleichbar breite modifizierende Wirkung auf das innere Modell der interpersonalen Welt und der eigenen Person haben; eine sehr viel durchgreifendere jedenfalls, als sie eine noch so gute reale Beziehungserfahrung in der Gegenwart erzielen kann. Um es in einem Bild auszudrücken: Mit Hilfe dieser synthetischen Erinnerungen kann man sichzurückbegeben an diejenige Stelle, wo der Lebensweg aufgrund bestimmter Erlebnisse eine Richtung eingeschlagen hat, die in die Enge, in eine Sackgasse führte. Von dieser Abzweigung ausgehend kann die Wahl neu getroffen werden, vor dem Hintergrund einer alternativen Erfahrung tut sich der "eigentliche" Weg einer ungestörten Entwicklung auf, es gibt eine Vielzahl neuer Optionen und eine neue und oft erstaunlich evidente und mühelose Neuorientierung. Dies fällt sehr viel leichter als an dem unwegsamen Ort, an den der tatsächlich begangene Weg geführt hat, die Richtung auf das ersehnte Ziel hin zu ändern, ungeachtet all der inzwischen geschehenen Einengungen und verlorenen Perspektiven, in sich selbst erfüllender Prophezeiung immer wieder neu bestätigter Frustrationen und Enttäuschungen. Selbstverständlich wird sich der Therapeut vergewissern, wie die Integration der in der Pesso-Arbeit erlebten Idealen Szene in das gegenwärtige Leben geschieht, doch hört man oft von Klienten ganz spontan den Satz:"Ja, wenn das so gewesen wäre, dann wäre mein gesamtes Leben anders verlaufen!"

Evaluation, Exploration, Evolution

Das Feld der Psychiatrie und Psychotherapie

Über kurz oder lang wurden Psychotherapeuten und Psychiater auf die Arbeit der Pessos aufmerksam. Der Leiter der Psychiatrie am Massachusetts General Hospital, Dr. Erich Lindemann, meinte sogar einmal: "Wenn die Pessos tatsächlich das tun, wovon ich denke, dass sie es tun, dann haben sie den Nobelpreis verdient!" Mitte der 60er Jahreerfolgten Einladungen zur Zusammenarbeit mit Psychiatern am Mc Lean Hospital, einem psychiatrischen Lehrkrankenhaus, und zu einem fünfjährigen Forschungsprojekt am Boston Veteran's Administration Hospital in Zusammenarbeit mit Dr. Charles Pinderhughes, dem Leiter der dortigen Psychiatrischen Forschung, und mit Dr. Leo Reyna, einem der Lehrer von Wolpe. Psychiater und Psychotherapeuten empfahlen Patienten, deren therapeutischer Prozess ins Stocken geraten war, zur Mitbehandlung an die Pessos und stellten fest, dass daraufhin die Therapien deutliche Fortschritte machten. In einer fortlaufendenexperimentellen Gruppe, an der mehrere Psychotherapeuten und Psychiater beteiligt waren, feilten die Pessos weiter an ihren Methoden.

Technische Verfeinerungen

Die genannte experimentelle Gruppe bot die Gelegenheit, die unterschiedlichsten Bedürfnisse, Emotionen oder körperlichen Spannungszustände zu erforschen. Die Pessos sammelten Erfahrungen darin, wie sich Energien im Körper anzeigen (verhaltennah z.B. durch Hitze, Kribbeln, Zittern; weiter von manifestem Verhalten entfernt und in ambivalenter Spannung mit unterdrückenden Impulsen, u.a. durch Kälte, Taubheit, Verspannung). Mit Hilfe der von ihnen entwickelten Übungen und Interventionenkonnten sie den Protagonisten helfen, diese Zustände zu explorieren und zu Bewegung, zu Aktion weiterzuentwickeln, zu dieser Aktion die jeweils passende Interaktion zu finden und schließlich die Bedeutung dieser Interaktion zu verstehen. Im Zuge dieser Erfahrungen wurde die Arbeitsweise zunehmend verbal, das heißt, dem Ausdruck von Bewegung wurde immer mehr auch die Benennung dessen beigesellt, wie der jeweilige innere Zustand sich anfühlt, welche Emotionen oder Erinnerungen damit verbunden sind, so wie auch die Akkommodation zunehmend verbal kommentiert wurde, die Rollenspieler also auch Sätze formulieren, was die jeweilige Interaktion bedeutet. Die Technik der Akkommodation wurde erweitert und die Übernahme von Rollen und der Ausstieg aus den Rollen klarer ritualisiert, um reale und symbolische Ebenedeutlich zu markieren. Zusätzliche Kategorien von Rollen wurden entwickelt (z.B. neben dem negativen Aspekt einer Figur aus der realen Geschichte auch der geliebte Aspekt einer historischen Person oder aber eine verstorbene Person, die zu einem Besuch zurückkehrt, um die Mitteilung unausgedrückter Emotionen entgegenzunehmen) und klare Regeln, was diese Figuren tun oder was sie, um die Sicherheit der Arbeit zu gewährleisten, keinesfalls tun. Niemals dürfen zum Beispiel die beiden eben erwähnten Arten von Rollen von sich aus positive Interaktionen übernehmen oder Bedürfnisse befriedigen, das bleibt allein den positiven oder idealen Figuren vorbehalten. Diese beiden Rollen sind ausschließlich empfangende. Andernfalls nähren sie im ersten Fall die Phantasie, die realen Eltern vielleicht doch noch einmal ändern zu können, oder im zweiten Fall gar den Wunsch, selbst zu sterben, um mit der als versorgend erlebten toten Person verbunden sein zu können. Auch in einer falsch konstruierten Idealen Szene könnenversehentliche negative Rekonstruktionen mit unerwünschten therapeutischen Konsequenzen enthalten sein. Gerade wegen der Eindrücklichkeit und Effektivität der symbolischen Szenen ist es wichtig, diese Gefahren zu kennen und ihnen vorzubeugen. Zusätzliche Personen können die Rolle von Erweiterungen oder von haltenden Figuren übernehmen. Deren Aufgabe, z.B. im Falle des Ausdrucks von Aggression, ist es, diesen Ausdruck zu erlauben und zu unterstützen, indem sie durch ihren Halt sicherstellen, dass der Protagonist auch bei Einsatz seiner gesamten Körperkraft (dann sind ungefähr sieben haltende Figuren nötig) weder sich verletzt noch irgend einem anderentatsächlichen Schaden zufügt. Der Ausdruck von Wut und Zorn kann dadurch in uneingeschränktem Ausmaß erfolgen. Wenn das Bedürfnis besteht, tatsächlich auch zu spü-ren, dass ein Gegenstand getroffen wird, kann mit Kissen oder Matratzen gearbeitet werden, die geboxt oder getreten werden können, anstatt die Bewegung in die Luft auszuführen, während zusätzlich eine Person in der Rolle der negativen Figur negativ akkommodiert. Zunehmend wurde differenziert, ob eine negative Akkommodationüberhaupt erwünscht ist oder ob es eher um die Erfahrung von Grenzen geht, also um das Erleben, dass die Wut oder Verzweiflung in vollem Umfang handhabbar ist, dass die Eltern damit umgehen können, ohne hiervon umgeworfen zu werden. Insgesamt verschob sich der Schwerpunkt vom reinen Ausdruck von Gefühlen hin zur Integration derheilenden Szene mit positiven Figuren, so dass der Ausdruck von Aggression zunehmend in den Hintergrund trat im Vergleich mit der Konstruktion einer positiven Interaktion, die diese Aggressionen gar nicht erst hätte entstehen lassen. Die Rolle des Therapeuten entwickelte sich immer mehr weg von der eines Trägersvon positiven Aspekten, der anfangs durchaus auch einmal eine Rolle übernahm, hin zu einem Begleiter des Protagonisten, der diesem hilft, seinen inneren Zustand zu explorieren und die Rollenspieler entsprechend anzuweisen und die gesamte Szene zu organisieren.

Theoretische Formulierung

Die Nachfrage nach Fortbildungsveranstaltungen, wo Psychotherapeuten und Psychiater in die Arbeitsweise der Pessos eingeführt werden sollten, stellte diese zunehmend vor die Herausforderung, das von ihnen in der Menge von Beobachtungen und eigener Erfahrung angesammelte Wissen zu vermitteln und für andere nachvollziehbar zumachen, wie sie Bewegung beobachteten und interpretierten, wie sie unter verschiedenen möglichen Interventionen wählten und therapeutische Entscheidungen trafen. Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das damals "Psychomotor Institute" genannte Ausbildungsinstitut in Boston gegründet. Zusätzlich stellte sich die Aufgabe, die sich im Verlaufe zahlreicher therapeutischer Prozesse herausschälenden Gemeinsamkeiten zu beschreiben und in theoretische Begriffe zu fassen. Teilweise griffen die Pessos hierzu auf das theoretische Vokabular der Therapeuten zurück, mit denen sie zusammenarbeiteten, also auf das der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie oder der Soziologie, teilweise entwickelten sie in der psychomotorischen Therapie, wie die Arbeit damals genannt wurde, eigene Begriffe, wie z.B. den einer "Struktur", für den gesamten Prozess einer einzelnen zentralen Figur bis hin zur abschließenden Szene mit den Idealen Elternfiguren. Was deren Funktionen genausind, welches die Kategorien von Defiziten sind, zu denen die therapeutische Arbeit mit den körperlichen Energien führte, ist inzwischen in einer umfangreichen Theorie festgehalten. Bevor ich diese in ihren Grundzügen darstelle, sei noch einmal betont: Grundlage der Arbeit war und ist nach wie vor immer das Vertrauen in die Weisheit des Körpers. Nicht nur die pathogene Erfahrung, sondern ebenso das Wissen um die heilende Szene, die mögliche Auflösung des inneren Dilemmas ist im Körper zu finden. Nicht durch das Insistieren des Therapeuten vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen, sondern durch genaues und treues Verfolgen der Körpersignale war es immer möglich, einen Weg zu einem positiven, heilenden Bild zu finden, und dieses Bild (oder zumindestpositive Vorläufer davon) war immer Endpunkt jeder Übung und jeder therapeutischen Arbeit. Diese therapeutische Grundhaltung, von den Pessos " possibility sphere "(Möglichkeits-Sphäre) genannt, das Vertrauen des Therapeuten in einen genetisch verankerten Urantrieb zur Suche nach Heilung, nach der passenden Interaktion ist jenseitsaller Technik die Grundlage der Arbeit und die Basis der therapeutischen Beziehung.

Das zugrunde liegende Menschenbild

Stadien der Bedürfnisbefriedigung

Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass in einer gesunden Entwicklung die Grundbedürfnisse des Kindes zunächst von außen befriedigt werden müssen, undzwar zuerst in konkreter, dann in symbolischer Weise. Der Säugling braucht beispielsweise konkrete körperliche Nahrung, die seinen physiologischen Bedürfnissen entspricht, und in einer gelingenden Stillbeziehung sorgen natürliche Regelkreisläufe dafür, dass die Muttermilch sowohl in Menge als auch in Konsistenz der Entwicklungsstufe des Kindes und seinem Flüssigkeitsbedarf angemessen ist, zur richtigen Zeit und in der richtigen Temperatur zur Verfügung steht. Sie ist sozusagen die perfekte positive Akkommodation zum Hunger des Säuglings und entspricht dessen Qualität, Ausmaß und Rhythmus so vollkommen wie eine Gussform der darin gegossenen Skulptur (Pessonennt diese zum dem Bedürfnis als "Form" genau passende Befriedigung die "Passform"). Das Baby verfügt seinerseits über die Mittel, sowohl Hunger als auch Sättigung zu signalisieren, also die Nahrungsaufnahme seinen Bedürfnissen entsprechend zu initiieren und zu beenden und die aufgenommene Nahrung zu assimilieren, also ebenfalls im konkreten Sinne in den Aufbau seines eigenen Organismus zu integrieren. Die konkrete Nahrung allein reicht aber nicht aus für eine gesunde Entwicklung: Das Kind muss vonseinen Eltern als Nächstes auch im symbolischen Sinne genährt werden, es braucht ihr Wohlwollen und Interesse, ihre Zuneigung und Validierung, die ihm ein Gefühl von Befriedigung und psychischer "Sattheit" anstelle von Leere und Hunger geben. Auch diese vom Kind erlebte Haltung zu seiner Person wird von ihm in den Aufbau seiner eigenenpsychischen Struktur integriert und prägt sein Lebens- und Selbstwertgefühl. Im dritten Stadium der Bedürfnisbefriedigung kann das Kind diese positiven Erfahrungen zum Modell seiner Autonomie nehmen und ist in der Lage, sein Bedürfnis nach konkreter und symbolischer Nahrung selbst zu befriedigen, sich selbst zu nähren und zu ernähren, und diese Funktion in längerfristiger Perspektive auch für andere, für die folgende Generation zu übernehmen. Bleiben Grundbedürfnisse unbefriedigt, so ist der Mensch in gewissem Ausmaß in der Lage, dies zu kompensieren. Führt auch vermehrter Einsatz (das Baby schreit) nicht zum Erfolg, kann es sich mit Ersatzobjekten zufrieden geben, die der ursprünglichen Form seiner Bedürfnisse mehr (z.B. Flasche) oder weniger (Schnuller) entsprechen, oder wird versuchen, sich selbst zu helfen (Daumen) oder den Hungerreiz zu unterdrücken oder ihn durch Stimulation zu überlagern. Im Falle der konkreten Bedürfnisbefriedigung sind diesen Ausweichmöglichkeiten Grenzen gesetzt, an denen das Überleben in Frage steht. Im Falle der symbolischen oder psychischen Bedürfnisse istder Spielraum möglicher Verformungen, Anpassungen an eine eben nicht dem Bedürfnis entsprechende äußere "Gegenform", sehr viel weiter. Das Kind formt seine zum Ausdruck oder gar erst zu Bewusstsein gelangenden Bedürfnisse (das Ego, das falsche Selbst) in Entsprechung zu dem, was in der Außenwelt erlaubt ist, was dort erwidertwird. Dies führt einerseits zur Unterdrückung bis hin zur völligen Ausblendung von Aspekten der im wahren Selbst ursprünglich vorhandenen Bedürfnisse, zu deren Abwehr, Projektion, Abspaltung etc. und andererseits zur Übernahme von Funktionen oder Ausdrucksweisen, die in Anpassung an die Bedürfnisse des Gegenübers entstehen und nicht mehr Ausdruck einer eigenen Lebenskraft sind. Aber die unerfüllten Bedürfnisse verschwinden nicht einfach, sie führen zu verzerrten Befriedigungsversuchen am falschen Objekt (Übertragungsphänomene in Arbeits- und privaten Beziehungen), zu entsprechend verzerrter Wahrnehmung und zu psychischen und psychosomatischen Spannungszuständen und Symptomen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das innere genetische Programm, nach demsich der physische und psychische Organismus entfaltet, das Vorhandensein bestimmter Umgebungsbedingungen jeweils zu bestimmten Entwicklungszeitpunkten vorsieht. Die Befriedigung bestimmter unerwiderter Kindheitsbedürfnisse kann also nicht ohne weiteres im Erwachsenenalter und erwachsenen Beziehungen nachgeholt werden. Zu den Aspekten der Passform gehört nicht nur die genau richtige Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung, sie beinhaltet auch die genau definierte richtige Altersstufe und inder Regel auch die genau definierte richtige Verwandtschaftsbeziehung zu der die Befriedigung gewährenden Person. Ein noch so wertschätzender Ehepartner kann nichtvollständig das Leuchten in den Augen der Mutter bei den ersten gelungenen freien Schritten des Kleinkindes ersetzen; eine von einer Betreuerin noch so liebevoll verabreichte Flaschennahrung schmeckt und riecht nicht vertraut nach Mama. Ohne die Technik der Konstruktion synthetischer Erinnerungen ist dieses Problem prinzipiellunlösbar. Nur auf symbolischer Ebene ist es möglich, die Akkommodation mit Hilfe der Auskünfte des Protagonisten in der genau richtigen Art und Weise zu bieten, vor allemaber auch in der Zeitebene zu der relevanten Altersstufe zurückzugehen und in der positiven Figur die jeweils passende Verwandtschaftsbeziehung darzustellen.

Grundlegende Entwicklungsbedürfnisse

Die Pessos gehen von fünf grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen aus, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.2Das erste Grundbedürfnis ist das nach einem Platz in der Welt, nach etwas, das vor uns existierte und das uns, unserer Existenz Raum in sich gewährt. Im konkreten Sinn istdie Gebärmutter dieser genetisch vorgesehene uranfängliche Platz: Sie trägt und respektiert das Kind in sich und definiert dessen Ort und Identität in Zeit und Raum. In ihr kann das Kind sich entwickeln und wachsen, es selbst werden. Mangelnde Befriedigung dieses Grundbedürfnisses infolge beispielsweise der Ablehnung durch die Mutteroder gravierende medizinische Probleme (Abtreibungsversuch) während der Schwangerschaft führen zu einer Verunsicherung darüber, wo der eigene Platz auf dieser Weltist. Mögliche Symptome hierfür sind: eine unstillbare Sehnsucht, irgendwohin zu gehören, ewiges Unterwegssein, ohne je eine Heimat zu finden, Abwendung und Flucht vondieser Welt, Hinwendung zu anderen Welten, dem Jenseits, Gott oder dem Himmel, bis hin zu einer latenten oder sogar manifesten Todessehnsucht: Der Tod wird als Ort desendgültigen Friedens phantasiert, an dem niemand jemals abgewiesen wird. Für diese "kalte Suizidalität" bietet die Pesso-Therapie eine einzigartige Behandlungsstrategie, die sich auf die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Platz konzentriert. Das zweite Grundbedürfnis ist das nach Nahrung. Sie wird zunächst durch den Mund in das Körperinnere aufgenommen und definiert dieses, gibt ein Gefühl der Fülle und des Wohlbefindens, hält uns im konkreten und im symbolischen Sinne am Leben. Mangelnde Nahrung erzeugt Gefühle von innerer Leere und Hohlheit, Ärger und Unzufriedenheit, Verwaistheit und ein Selbstbild von oraler Grenzenlosigkeit und Unersättlichkeit, eine ständige verzweifelte Suche nach alternativer Nahrung. Unterstützung ist das dritte Grundbedürfnis. Sie überwindet für das neugeborene Kind die Schwerkraft, gibt ein Gefühl für Boden und Basis. Aufgenommen wird sie mit der Rückseite des Körpers (Rücken, Gesäß und Füße) und definiert die gewichtstragenden Körperteile. Mangelnde Unterstützung führt zu Gefühlen der Unsicherheit, "als ob man den Boden unter den Füßen verlöre", Schwindelgefühlen und Alpträumen vonendlosem Fallen und ist häufig mit unsicherem Gleichgewicht, häufigen Stürzen in der Kindheit und bis ins Erwachsenenalter andauernder Verletzungsneigung der eigenentragenden Gliedmassen verbunden. Als viertes Grundbedürfnis ist das nach Schutz zu nennen. Der weiche, zerbrechliche,äußeren Kräften weitgehend schutzlos ausgelieferte Körper des Neugeborenen benötigt einen äußeren Schutzschild, dessen Widerstandskraft und Härte seine Grenzen schützt, vor Gefahren abschirmt und überwältigende äußere Eindrücke abpuffert. Dieser Schutzschild definiert im Wesentlichen die vorderen Körperflächen, aber auch aufnehmende (Sinnes-) Organe können des Schutzes bedürfen. Mangelt es daran, kommt es zu Gefühlen von Hilflosigkeit, Empfindlichkeit, Machtlosigkeit, Ausgeliefertsein und Verletzlichkeit. Als fünftes und letztes Grundbedürfnis zählt Al Pesso das nach Grenzen auf. Jedes Kind wird mit einer kraftvollen genetischen Natur geboren, mit der Fähigkeit, auf die äußere Welt Einfluss zu nehmen und von ihr beeinflusst zu werden. Es muss in liebevoller Interaktion mit den Eltern erkennen, dass sie mit diesen Fähigkeiten umgehen können, dass diese Kräfte nicht unkontrollierbar, omnipotent oder gar unendlich sind. Die Eltern bieten Grenzen an erster und wichtigster Stelle, indem sie die Grundbedürfnisse befriedigen und damit demonstrieren, dass diese nicht grenzenlos, unendlich, unersättlich sind, sondern von anderen handhabbar und prinzipiell befriedigbar. Indem die Eltern zweitens aggressivem Verhalten des Kindes mit Verständnis und Umsicht begegnen, demonstrieren sie ihm, dass sein Ärger und seine Wut nicht omnipotent sind, dass es in der Welt etwas damit erreichen kann, ohne dass zugelassen wird, dass diese Kräfte Zerstörung oder Tod anrichten. Drittens begrenzen die Eltern liebevolles, sinnlich sexuelles Verhalten, indem sie es zwar willkommen heißen und akzeptieren, es abergleichzeitig definieren, indem sie die sexuelle Bindungsbereitschaft des Kindes von sich und anderen Familienmitgliedern weg und auf dessen zukünftige Partner hinlenken. So kann das Kind sich zu einem freien, spontanen Erwachsenen entwickeln ohne Angst vor seinen inneren Kräften oder vor einem möglichen Verlust der Kontrolle über sie. Mangelnde äußere Grenzen erschweren die Integration dieser Kräfte und führen entweder dazu, dass diese unzureichenden Ich-Kontrollen unterworfen sind, sich in destruktivem Ausagieren, Promiskuität, Destruktivität und Omnipotenz ausdrücken, oder aber aus Angst vor dieser Gefahr ängstlich und rigide unterdrückt und mit Schuldgefühlen und Angst verbunden werden, so dass die aggressiven Energien sich möglicherweise in zerstörerischer Weise nach innen richten. Die daraus resultierende "heiße Suizidalität"braucht also Begrenzung.3 Wie man am Beispiel der Suizidalität sehen kann, ist die Unterscheidung der jeweilszugrunde liegenden Defizite differenzialdiagnostisch wichtig und wird zu jeweils unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Konstruktion der heilenden Szene führen. Aufgrund der erwähnten unterschiedlich betroffenen Körperareale bei den einzelnen Grundbedürfnissen ist es oft schon relativ früh im Verlauf einer therapeutischen Arbeitmöglich, anhand von beobachteten Körpersignalen Hypothesen über die voraussichtlich relevanten Grundbedürfnisse und manchmal sogar über die Altersstufe des jeweiligen Defizits zu bilden und therapeutische Entscheidungen auf diese Grundlage zu stützen.

Integration der Polaritäten

Neben der Erfüllung der Grundbedürfnisse gibt es einen weiteren Bereich, der zu den Forderungen der menschlichen genetischen Natur gehört, nämlich die Integration der Polaritäten. Die erste dieser Polaritäten ist die genetische, die Polarität zwischen väterlichem undmütterlichem Genmaterial. Wenn die Eltern einander lieben und annehmen, so wirkt dies als Modell für das Kind: Es kann sich in all seinen Teilen von den Eltern geliebt fühlen und sowohl die Anteile seiner Persönlichkeit, in denen es der Mutter ähnelt, als auch die dem Vater ähnlichen annehmen, integrieren und sich mit ihnen identifizieren. Besteht ein Bruch zwischen den Eltern, so wird es dem Kind schwer fallen, zu dieser inneren Einheit zu kommen, da es in sich Anteile wieder findet, die es von jeweils einem Elternteil im anderen abgelehnt erlebt. Es wird ihm schwer fallen, diese Teile in sich selbst als positiv oder zumindest potenziell liebenswert einzuordnen, und stattdessen geneigtsein, sie in sich selbst abzulehnen und zu unterdrücken. Die neurologische Polarität ist diejenige zwischen den Funktionen der linken undrechten Gehirn-Hemisphäre. Während die linke Gehirnhälfte schwerpunktmäßig für bewusstes, rationales, kognitiv-abstraktes und lineares Denken ausgelegt ist, sind unbewusstes, emotionales, nonverbal-intuitives und ganzheitliches Denken vorrangig in der rechten Hemisphäre lokalisiert. Beide Fähigkeiten können im Prinzip koordiniert undharmonisch zusammenarbeiten. Voraussetzung hierfür ist wieder das Vorbild der Eltern, die im Idealfall selbst beide Funktionsweisen integriert haben und diese in sich, ineinander und im Kind wertschätzen und unterstützen. Wird der eine oder andere Teil abgewertet und ausgeblendet, fehlt dem Kind dieses Vorbild, und es wird schnell lernen, die entsprechenden Aspekte seiner eigenen Persönlichkeit zu unterdrücken und/oder auf andere zu projizieren. Die sensorisch-motorische Polarität hat zu tun mit dem ausgewogenen Einsatz beider Anteile des Nervensystems: des afferenten, welches das zentrale Nervensystemdurch die Sinneskanäle mit Informationen über die äußere Welt versorgt, und des efferenten, welches die Muskulatur durch das willentliche, das emotionale und das reflektorische Nervensystem in Reaktion auf die äußere Welt zu Aktionen stimuliert. Wünschenswert ist, dass die Eltern dem Kind erlauben und es dabei unterstützen, aufder Wahrnehmungsebene alle die Sinnesempfindungen und Erfahrungen zu erforschen, die sein Nervensystem bewältigen kann, ebenso wie es auf der Aktionsebene all die Bewegungen und Verhaltensweisen explorieren kann, die von diesen drei Bewegungssystemen initiiert werden, so dass im Endergebnis beide Richtungen ausgewogen und koordiniert zusammenarbeiten. Bevorzugen die Eltern bei dem Kind die eine oder andere Richtung oder unterdrücken selektiv das eine oder andere Bewegungssystem, so entsteht eine mangelnde sensorisch-motorische Integration. Das Kind wird beispielsweise einseitig passiv aufnehmend und bewegungsfaul oder aber einseitig motorisch aktiv beimangelnder Aufnahmefähigkeit sein; es kann gehemmt sein im Ausdruck und Empfinden von Emotionen, wird seinen Reflexen nicht vertrauen oder Defizite bei der Kontrolle seiner Motorik und in der körperlichen Geschicklichkeit zeigen. Eine weitere wichtige Polarität ist die zwischen Kraft/Aktivität/Abgabe und Rezeptivität/Reaktivität/Aufnahme. Diese beiden Pole unseres Seins sind im konkreten, materiellen Sinne oft eng miteinander verbunden: Wir können nicht atmen, ohnesauerstoffreiche Luft aufzunehmen und im rhythmischen Wechsel hiermit kohlendioxidreiche abzugeben; wir können uns nicht ernähren, ohne Nahrungsmittel zu uns zunehmen, die Nährstoffe zu assimilieren und gleichzeitig die unverdaulichen Bestandteile der Nahrung zusammen mit den Abfallstoffen unseres Organismus wieder abzugeben. Aber auch im symbolischen Sinne nehmen wir Informationen über die Welt auf und geben Informationen ab, im motorischen Bereich sind wir Kräften ausgesetzt undwirken mit unserer Motorik auf die Welt ein; wir reagieren emotional und empathisch auf andere Menschen und versuchen, durch den Ausdruck unserer eigenen Gefühleandere emotional zu erreichen und zu beeinflussen. Bei gelungener Integration dieser Pole können beide lustvoll ausgeführt werden, und die beiden Richtungen stehen miteinander im Gleichgewicht. Bei Störungen dieser Entwicklung können einzelne oder beide dieser Pole mit Scham, Unsicherheit oder Angst verbunden oder als grenzenlos, unkontrollierbar oder omnipotent empfunden werden. Besonders häufig ist dies der Fall als Konsequenz von Missbrauch oder Traumatisierung. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Erfahrungen ist der Verlust der Kontrolle über die Aufnahme des Körpers. Als Folge kann es zu einer unbegrenzten Rezeptivität kommen: Die Fähigkeit zur Wahrung der eigenen Grenzen in Form des Verschließens vor unerwünschter Aufnahme geht verloren, was häufig erneut zur Erfahrung von Übergriffen führt. Als Abwehr dieser übermäßigen Öffnung kann aber auch im Gegenteil der aktive, penetrierende Pol so übertrieben ausgeprägt werden, dass der weiche, reaktive, rezeptive Teil von Beziehungsfähigkeit verloren geht. Im Wissen um den Zusammenhang der Polaritäten wird der Therapeut in diesem Fall aber die Aggressivität durch positive Figuren eher validieren als limitieren lassen und gezielt die Notwendigkeit einer Begrenzung der Öffnung und der Befriedigung des Grundbedürfnissesnach Schutz im Blick behalten. Wie schon bei der Suizidalität wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass es sich bei der Konstruktion einer wirklich genau passenden positiven Interaktion keinesfalls um eine Trivialität handelt und dass der Therapeut ein sehr differenziertes theoretisches Wissen und diagnostische Unterscheidungsfähigkeit benötigt. Die letzte zu integrierende Polarität ist die zwischen den eigenen männlichen undweiblichen Anteilen. Während jeder Mensch biologisch je einem Geschlecht angehört, hat er auf symbolischer Ebene beide Polaritäten in sich und im Idealfall sowohl diekonkrete Liebesbeziehung seiner Eltern als auch deren jeweils persönliche Integration beider symbolischer Pole zum Vorbild für die eigene symbolische Integration, so dass er über psychische Qualitäten beider Geschlechter verfügt. Beim Verlust eines Elternteils durch häufige Abwesenheit, Tod oder Trennung, infolgedessen ein einzelner alleinerziehender Elternteil ohne Partner verbleibt, fehlt nicht nur dieses äußere Vorbild der Integration, es fehlt auch die Definition und Begrenzung des entsprechenden symbolischen Anteils durch den realen Elternteil des entsprechenden Geschlechts. Es entsteht eine "Sogwirkung" auf das Kind dahingehend, den nicht besetzten Pol mit dem entsprechenden eigenen Anteil auszufüllen. Beim Verlust des Vaters beispielsweise wird das Kind (häufiger und in stärkerem Masse das jeweils älteste, unabhängig von seinem biologischen Geschlecht) den eigenen, noch nicht integrierten symbolischen männlichen Pol inflationär erweitern, um der Mutter den Mann und sich selbst den Vater zu ersetzen. Die unintegrierte, wie Pesso es nennt, " magische " Qualität dieses unbegrenzten Teils kann dazu führen, dass die entsprechenden symbolischen Fähigkeiten so erlebt werden, als ob sie real seien, uneingegrenzt, omnipotent und unendlich; die Liebesbeziehung zur Mutter findet nicht mehr in klar definierter Generationenbindung statt, sondern bekommt einen erotisierten, magischen, inzestuösen Charakter auf einer partnerschaftlichen statt kindlichen Ebene - mit entsprechend problematischen Konsequenzen füreine spätere eigene Liebesbeziehung. Ein weiterer Effekt dieses magisch omnipotenten inneren Elternteils ist es, dass ein tiefes Misstrauen gegenüber jedweden späteren äußeren Autoritäts- oder Elternfiguren besteht. Trotz der eigentlich vorhandenen tiefen Sehnsucht nach ihnen werden sie eifersüchtig bekämpft und sabotiert, da sie als Konkurrent erlebt werden, als Bedrohung des grandiosen, in "splendid isolation" scheinbar völlig autonomen magischen inneren Elternteils, den aufzugeben so schwer fällt wie das Risiko, sich erneut auf eine äußere Elternfigur einzulassen (und damit auch auf das Risiko eines befürchteten erneuten Verlusts). Selbst die Idealen Elternfiguren werden dannzunächst abgelehnt und bekämpft und erst, wenn sie diese Probe bestanden haben, mit einer tiefen Erleichterung akzeptiert - aber auch gleichzeitig mit einem gewissen Maß an Ernüchterung und Verlust, da die Inflation, der "Kick" der grandiosen elterlichen Position, der sekundäre Gewinn, zusammen mit der damit verbundenen Überforderung und dem inzestuösen Risiko wegfällt: das ist der Preis der Entlastung. Das Kind ist dann "nur noch" Kind, und sein männlicher Pol nur noch symbolisch - dann kann er aber in die Gesamtpersönlichkeit integriert werden.

Weitere Entwicklungsbedürfnisse

Neben diesen beiden eher defizitbestimmten Klassen von genetisch definierten Antrieben - der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Integration der Polaritäten - gibt es drei weitere, die an dieser Stelle nur ganz kurz dargestellt sein sollen und im Rahmen der folgenden Ausführungen besser verständlich sein werden. Der dritte Antrieb ist der, Bewusstsein zu entwickeln, ein geordnetes, bedeutungsvolles, verbal gefasstes inneres Abbild der äußeren und inneren Realität. Viertens besteht der Antrieb, die innere Steuerungsinstanz der Person, die aufgrund der bewussten Informationen Entscheidungen trifft, auf Ereignisse reagiert und in autonomer Weise Ziele verfolgt, zu entwickeln. Die Pessos nannten diese Instanz den Piloten. Schließlich gehen sie von einem Grundantrieb aus, die eigene Einzigartigkeit und die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale zu realisieren und den je ureigenen, persönlichen Beitrag zur Entwicklung der Welt zu leisten, etwas zu schaffen, was über die eigene Existenz hinausweist.

Kognitive Einbettung

Nachteile des Ausgangspunktes Körper

In den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ging die Strukturarbeit in der Regel von den Energien im Körper aus. Der Klient wurde gebeten, in der Übungdes reflektorisch-entspannten Standes so weit wie durch eine bewusste Entscheidung möglich alle Muskeln so weit zu entspannen, dass der Körper nur noch von Reflexenaufrechterhalten wird. Die dann noch verbleibenden Spannungen oder, weiter gefasst, "Energien" wurden dann durch die beschriebene Sequenz Energie (Körperempfindungen) - Aktion (Bewegung) - Interaktion (Akkommodation) - Bedeutung (Erinnerungen, zeitlicher und Beziehungskontext) zu ihrem emotionalen, psychischen, geschichtlichen Hintergrund hin verfolgt und die Struktur mit einem positiven Gegenbild oder "Antidot" mit Idealen Figuren abgeschlossen. Diese Vorgehensweise hatte aber therapeutische Nachteile. Zum Ersten waren die Pessos inzwischen so geübt im Beobachten, Einordnen und Verwerten ihrer Beobachtungen, dass die Entscheidungen im Verlauf des therapeutischen Prozesses gelegentlichweitgehend am Bewusstsein des Klienten vorbeigingen. Es resultierten sehr emotionale, manchmal sogar explosive Strukturen mit viel intensivem Ausdruck und bewegenden Idealen Szenen, die aber von den Klienten schwer zu integrieren waren. Manchmal konnten sich die Protagonisten im Nachhinein nicht mehr klar erinnern, was in der Struktur geschehen war oder wie es zu der Antidot-Szene gekommen war, bis hin zu dem Vorwurf an den Therapeuten: "Das war deine Struktur, Al, nicht meine!" Dieser Effekt ist nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, dass sich in den körperlichen Symptomen ja eben gerade diejenigen Emotionen und Bedürfnisse manifestieren, dienicht zu einer befriedigenden Interaktion gelangt sind, also nicht interpersonale Realität und damit nicht Teil des bewussten Egos geworden waren. Es fehlte offenbar manchmalder Zwischenschritt, diese Impulse zunächst dem Bewusstsein zugänglich zu machen, bevor sie zu einer dann ebenfalls im Bewusstsein einzuordnenden heilenden Szeneweiterentwickelt wurden. Zum Zweiten blieb manchmal die Verknüpfung der Struktur mit der aktuellen Lebenssituation unklar. Obwohl die Zusammenhänge der Körperarbeit mit der Lebensgeschichte und der Idealen Szene als Antidot zu einer historischen Deprivation deutlich waren, stellte sich doch oft die Frage, wie denn das Erlebte nun für die gegenwärtigen Beziehungen relevant war, warum diese Empfindung, diese Erinnerung gerade in dieser Struktur aufgetaucht war. Wenn die Erinnerungen und die daraus gefolgerte "Landkarte" der Welt für unser heutiges Leben steuernde Funktion haben, wie konnteman diese Verknüpfung in der Struktur klarer herausarbeiten?

Ausgangspunkt gegenwärtige Realität

Infolge dieser Gesichtspunkte geschah eine radikale Wende im Aufbau der Pesso-Arbeit: Als Ausgangspunkt einer Struktur wird in der Regel nicht mehr eine Körperempfindung genommen oder eine solche mit Hilfe einer Übung bewusst gemacht, sondern die gegenwärtige Realität des Klienten - sei es ein aktueller innerpsychischer oderzwischenmenschlicher Konflikt, ein Problem in der alltäglichen Realität oder aber ganz vom Hier und Jetzt ausgehend die Wahrnehmung der momentanen Situation im Raum, in der Beziehung zur Gruppe oder zum Therapeuten zum Zeitpunkt des Beginns der Struktur. Wenn das Erleben der Gegenwart von der Geschichte mitbestimmt ist, wenn in der Selektivität unserer Wahrnehmung immer auch unsere momentane Befindlichkeit, unsere unerfüllten Bedürfnisse, unsere kognitiven Kategorien und erlernten Bewältigungsmuster eine Rolle spielen, dann sollte in der genauen Analyse der gegenwärtigen bewussten Realität ebenfalls der rote Faden der Lebensgeschichte und der entwicklungsgeschichtlichen Defizite zu finden sein. Wegen dieses Zusammenhanges sollte dann auch die im Gegensatz genau hierzu konstruierte Ideale Szene als hypothetische alternative Vergangenheit möglichst fruchtbringend für die gegenwärtig zu bewältigende Lebenssituation sein. Der Klient wird also ganz einfach gebeten, darüber zu berichten, was ihn im Moment beschäftigt.

Phasen einer Pesso-Struktur

Die Wahre Szene - Microtracking4

Die gegenwärtige Realität wird ebenso szenisch im Raum sichtbar gemacht, wie es zuvor bei den Szenen mit den Akkommodatoren oder bestimmten historischen Figurender Fall war. Zu Beginn der Struktur soll sie in all ihren Aspekten sichtbar werden. Zusätzlich zu den an der Situation beteiligten Personen in ihren negativen oder geliebten Aspekten wurde hierzu eine neue Art von Figuren eingeführt, die nicht mehr notwendig oder unmittelbar sichtbar mit realen äußeren Personen verknüpft waren. Dies ist auf der einen Seite die Zeugenfigur 5. Es handelt sich um ein empathische, wohlwollende Figur, die - auf Vorschlag des Therapeuten und nach Zustimmung des Klienten - in genau passende Worte fasst, was einerseits jeweils an Emotionen im Gesichtsausdruck des Klienten aufscheint: "Ich sehe, wie verletzt du dich fühlst..." und andererseits in welchem Kontext diese Emotion entstand: "... wenn du daran denkst, dass du als Letzter drankamst." Diese Zeugenfigur bildet also den emotionalen Zustanddes Klienten ab, macht ihn bewusst, gibt ihm einen Namen und macht ihn zu einer zwischenmenschlichen Realität (unabhängig von der Person des Therapeuten, der damit nicht als Einziger "sieht"). Wie gesagt, es handelt sich um beobachtbare, nicht um vermutete Emotionen, um eine Beschreibung, nicht um eine Interpretation und um Gefühlsausdruck im Gesicht, nicht in Körperhaltung oder Bewegung. Dies scheint einen entscheidenden Unterschied zu machen in der Verarbeitung der Zeugenbotschaft: Wenn der gewählte Gefühlsausdruck genau stimmt, dann ist die unmittelbare nonverbale Reaktion des Klienten ein erkennendes Zustimmen. Er fühlt sich gesehen, das Gefühl gewinnt in der Regel an Intensität und die therapeutische Beziehung an Vertrauen. Dies wirft, nebenbei erwähnt, auch die interessante Frage auf, ob ein sich im Gesichtzeigender Gefühlsausdruck auf hirnphysiologischer Ebene anders gesteuert wird und einen höheren Integrationsgrad hat als der Ausdruck in Körperhaltung o.Ä., der offenbarweniger bewusstseinsnah ist und dessen Benennung in der Regel nicht unmittelbar "erkannt" wird, sondern eher Überraschung, Nachdenken, Prüfen und eventuell Schamoder Widerstand auslöst. Auf der anderen Seite gibt es die so genannten Stimmen. Sie bilden die Kognitionendes Klienten ab, seine Gedanken, inneren Dialoge, Schlussfolgerungen. Wenn der Klient also beispielsweise sagt: "Aber da sollte ich nicht so empfindlich sein, das ist ja lä-cherlich!", dann kann - ebenfalls auf Vorschlag des Therapeuten und nach Zustimmung des Klienten - ein Gruppenmitglied die Rolle einer Stimme übernehmen, die genau diese Sätze zum Klienten sagt: "Aber da solltest du nicht so empfindlich sein, das ist ja lächerlich!" Je nach ihrer Qualität können diese Stimmen benannt werden als Stimme der Wahrheit ("So ist das Leben") oder genauer als Stimme des Vorwurfs, der Beschämung, der negativen Voraussage, auch als Stimme der Abspaltung ("Es ist besser, so etwas zu ignorieren") oder der Überlebensstrategie ("Wenn du dich nicht beschwerst, handelst du dir nicht noch zusätzlichen Ärger ein"). Immer aber übernehmen sie die genauen Worte, die der Klient selbst gesagt hat, da ihre Aufgabe nicht Konfrontation oder Interpretation ist, sondern das Abbilden der inneren Realität in eine äußerlich für Klient und Therapeut sichtbare. Häufig schafft allein schon die äußere Positionierung dieser Stimmen einen gewissen inneren Abstand zu ihnen, die Möglichkeit der Überprüfung der jeweiligen Aussage - oder aber macht bewusster, wie ausgeliefert und ohnmächtig der Klient sich gegenüber diesem Satz fühlt (was wiederum der Zeuge benennen wird). Theoretisch gesehen macht es den Vorgangder Introjektion real stattgefundener Interaktionen wieder rückgängig und macht wieder interaktiv, was vermutlich ursprünglich aus einer Interaktion gelernt worden ist, undbahnt damit den Weg zur nächsten Phase der Struktur, der historischen Szene. Beide Elemente zusammen, die Abbildung der Emotionen mit Hilfe der Zeugenfigur und der Kognitionen mit Hilfe der Stimmen, werden " Microtracking " genannt, also das genaue minutiöse Verfolgen des Bewusstseinsstromes des Klienten, von Moment zu Moment. Voraussetzung hierfür ist die genaue Beobachtung des Gesichtsausdrucks, die Fähigkeit, die sich zeigenden Emotionen differenziert zu benennen (Al Pessos Vokabular hierfür umfasst an die tausend Ausdrücke), und das Erinnerungsvermögen, den genauen Wortlaut der Erzählung als Kontext der Emotionen oder der formulierten Gedanken behalten und wiedergeben zu können. Die Präzision dieser Interventionen ist Voraussetzung dafür, dass - vermutlich auf neurophysiologischer Ebene - die entsprechenden assoziativen Verbindungen aktiviert und damit Zusammenhänge zu tatsächlich erlebten Szenen hergestellt werden; dies hängt erfahrungsgemäß vom exakten Wortlaut ab. Auch die Platzierung der Zeugenfigur, der Stimmen und der Aspekte der real beteiligten Personen im Raum (Abstand, Höhe, Orientierung) sowie der Tonfall, in dem die Sätze ausgesprochen werden, soll ein möglichst genaues Abbild des Erlebens des Klienten sein, so dass inneres und äußeres Bild im Idealfall deckungsgleich sind. In gewisser Weise geht es also auch hier um Akkommodation, um die bestmögliche Anpassung an das Erleben der zentralen Person. Um eine negative Rekonstruktion durch eine erneute Übermacht negativer Stimmen zu vermeiden, können in dieser Phase zusätzlich positive Partialfiguren eingesetztwerden, zum Beispiel Kontakt gebende oder haltende Figuren. Ihre Funktion ist es, dem Klienten Sicherheit zu geben, wenn er die durch die Stimmen ausgelösten und vom Zeugen benannten Emotionen erneut und in größerer Intensität als sonst durchlebt. Es geht also nicht darum, den bewusst werdenden Schmerz zu lindern, sondern dessen Wahrnehmung zu ermöglichen; ein typischer Satz dieser Figuren wäre z.B.: "Ich werde dir helfen, mit deinen Gefühlen umzugehen, ich werde bei dir sein, wenn du deinen Schmerz / deine Wut / deine Verzweiflung spürst." Während die Zeugenfigur im Hier und Jetzt, auf der Ebene der gegenwärtigen realen therapeutischen Beziehung verbleibtund in Kontakt mit dem Bewusstsein, mit dem Piloten des Klienten steht, können die positiven Partialfiguren den Wechsel der Zeitebene in die Vergangenheit mitvollziehenund sind häufig Vorläufer Idealer Figuren.

Die historische Szene

Wenn das Microtracking in der nötigen Genauigkeit ausgeführt wird, kommt es in der Mehrzahl der Strukturen spontan zu Erinnerungen an reale lebensgeschichtliche Szenen. Häufig sind die entsprechenden Sätze beinahe im Wortlaut von realen Personen gesprochen worden, zum Beispiel von einer überforderten Mutter zu einem eifersüchtigen Kind: "Jetzt stell dich doch nicht so an, das ist ja lächerlich!", oder waren dessen Schlussfolgerung aus einer bestimmten historischen Situation, wo das Kind etwa vergeblich versucht hat, die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen, sich gegen Zurücksetzung zu wehren, stattdessen weitere Ablehnung geerntet und daraus gefolgert hatte, in Zukunft keine Ansprüche mehr zu stellen und seinen Schmerz über die entbehrte Zuwendung nicht mehr wahrzunehmen. Die Stimmen führen also sehr oft zu negativen Aspekten lebensgeschichtlicher Figuren, die zusätzlich zu den Stimmen von Rollenspielern dargestellt werden können.6 Aufgabe der Zeugenfigur ist es weiterhin, die Emotionen des Klienten im - nunmehrhistorischen Kontext - zu benennen: "Ich sehe, wie gekränkt du dich fühlst, wenn du dich daran erinnerst, wie deine Mutter..." Diese Zeugenbotschaften unterstützen das Bewusstsein für die heute wie damals empfundene Verletzung, benennen diese und geben ihr Existenzberechtigung. Implizit enthalten ist auch die Validierung des wahren Selbst: Es ist normal, hierüber gekränkt zu sein, es ist in Ordnung, sich als Kind von der Mutter Zuwendung und Aufmerksamkeit zu wünschen. Die positiven Partialfiguren ermöglichen es, diesen Schmerz erneut zu spüren, ohne von den Gefühlen wie damals überflutet zu werden und damit allein dazustehen oder gar dafür bestraft zu werden. Gleichzeitig können sie eine erste Perspektive auf die Möglichkeit geben, dass mit diesen Gefühlen anders hätte umgegangen werden können, und bahnen hiermit einen Wegzur Idealen (heilenden, Antidot-) Szene. Sobald der Kontext der Gefühle und Körperimpulse klar geworden ist, das heißt, sobald in den Rollen nicht mehr nur Stimmen, sondern Figuren sind, können die körperlichen Energien auch in der bekannten Sequenz Energie-Aktion-Interaktion-Bedeutung weiterverfolgt werden - nur in Ausnahmefällen wird dies noch zur Klärung des Impulses oder als Mittel zum Finden des Kontextes angewandt. Handelt es sich um negative Gefühle, so kann weiterhin mit negativer Akkommodation gearbeitet werden; das Hauptgewicht des weiteren Verlaufes liegt aber auf der Entwicklung der Idealen Szene.

Die Ideale Szene

Zu diesem Zeitpunkt liegen nun nicht nur alle nötigen Informationen darüber vor, was in der Entwicklungsgeschichte gefehlt hat - Klient wie Therapeut wissen um diehistorische Szene -, es ist nicht nur auf körperlicher Ebene der energetische Zustand der damals unbeantwortet gebliebenen Empfindungen und Bedürfnisse vorhanden undmit Hilfe des Zeugen und/oder von Bewegung und Akkommodation bewusst, es entsteht auch durch die bejahende Haltung in der possibility sphere des Therapeutenund durch die Präsenz der positiven Partialfiguren eine erneute Hoffnung darauf, dass diese Wünsche in Interaktion befriedigt werden können, eine erneute Motivation dazu, diese Befriedigung zu suchen. Im Prinzip ist es also vor diesem Hintergrund möglich, in Umkehrung der Defizite in der historischen Szene eine heilende Szene mit Idealen Eltern zu konstruieren. Al Pesso achtet allerdings inzwischen sehr darauf, im Angebot positiver Interaktionnicht über die Aufnahmebereitschaft des Klienten hinauszugehen und die Schritte des Aufbaus der Idealen Szene sehr sorgfältig zu dosieren entsprechend den beim Protagonisten beobachteten Signalen für dessen Rezeptivität. Manchmal notwendige Vorläufer einer durch eine Rollenspielerin dargestellten Idealen Mutter sind:
  1. die prinzipielle Möglichkeit, dass es überhaupt vorstellbar ist, dass eine Mutter (in einem eventuell zusätzlich zu konstruierenden alternativen Kontext) anders hättereagieren können,
  2. die Definition der Merkmale einer solchen Mutter,
  3. das Vorstellungsbild einer solchen Mutter,
  4. dessen Platzierung im Raum und
  5. deren Repräsentation durch ein Objekt oder durch ein Gruppenmitglied.
Im Falle von schwerwiegender Deprivation ist es Klienten gelegentlich gar nicht vorstellbar, dass ein menschliches Wesen in der Lage sein könnte, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Sie können sich dies nur noch von anderen Lebewesen (ein treuer Hund, derwahrgenommen hätte, wie es ihnen geht), Traumfiguren (wie der Kleine Prinz im Schlager, der ins Herz schauen kann) oder gar Objekten (ein bestimmter Baum im Garten als Zufluchtsstätte) vorstellen. Alle diese Bilder können zur beginnenden Konstruktion einer Antidot-Szene verwendet werden, und der Therapeut wird sich sehr sorgfältig darum bemühen, in deren Weiterentwicklung hin zu zwischenmenschlicher Interaktion innerhalb des Rahmens dessen zu bleiben, was für den Klienten vorstellbar, glaubhaftund überzeugend ist - und/oder ihn ermutigen, sich von der Glaubhaftigkeit durch eine körperliche Interaktion, durch bewusstes Austesten zu überzeugen. In einer fortlaufenden Gruppe ist auch die Entwicklung einer Struktur über mehrere Sitzungen hinweg möglich. Unerlässlich für den Abschluss einer Struktur ist allerdings immer, dass der Klient mit einem Abschlussbild verbleibt, das positiv und in Interaktion ist (und dies wie erwähnt nicht mit einer verstorbenen Figur).

Integration

Im Verlauf der Konstruktion der Idealen Szene und vor Abschluss der Struktur wird sich die Therapeut in im Rückblick auf die beobachteten Körpersignale und die Informationen aus der realen und historischen Szene noch einmal vergewissern, ob wirklich alle offen gebliebenen Bedürfnisse in der Antidot-Szene umgekehrt worden sind und ob diese wirklich eine Passform darstellt zur höchsten Energie, die auf der Körperebene beobachtet worden ist. Bei guter und vollständiger Akkommodation ist die vollständige Entspannung des Körpers deutlich sichtbar ohne einen Rest unausgedrückter Energien, denen noch eine Passform fehlt. Im Zweifelsfall wird der Klient gebeten, noch einmaldie Richtigkeit des Kontaktes zu überprüfen und/oder noch einmal alle Energien zu bündeln, um sich in Bewegung von der Zuverlässigkeit des Kontaktes zu überzeugen. Anhand der Theorie kann überprüft werden, dass die Ideale Szene kein Element einer negativen Rekonstruktion enthält (zum Beispiel eine Situation mit nur einer Idealen Mutter vor einem geschichtlichen Hintergrund, wo dringend beide Eltern anwesend sein müssten, um einer magischen Partnerposition des Kindes vorzubeugen) und insich stimmig ist. So weit wie möglich werden die Idealen Eltern in gutem Kontakt miteinander und auf gleicher Höhe positioniert sein, so dass das Kind zu ihnen aufschauen kann. Sie sollten - notfalls mit Hilfe von Kissen und/oder erweiternden Figuren - ihre Funktion ohne Rücksicht heischende Anstrengung ausführen können, denn dies wäre für den Klienten spürbar und ebenfalls eine negative Rekonstruktion. Falls der zeitliche Kontext der Idealen Szene nicht aus der historischen Szene heraus ohnehin klar ist, wird die Altersstufe, auf der der Klient diese Erfahrung am meistenentbehrt hat, noch einmal erfragt und ihm geholfen, die neue positive Erfahrung in dieser Altersstufe aufzunehmen, als ob er sie damals hätte machen können. In der Regel istdie Altersstufe auch auf der körperlichen Ebene, im Gesicht und in den Bewegungen deutlich sichtbar. Die Bedeutung der positiven Interaktion wird ebenfalls noch einmalverbal gefasst und in den Kontext des Kontaktes mit den Idealen Figuren gestellt, die beispielsweise sagen: "Wenn wir damals da gewesen wären, als du fünf warst, dann hättest du dir unserer Aufmerksamkeit so sicher sein können. Mit uns hättest du dich so wertgeschätzt, so wichtig fühlen können, wie du es jetzt spürst." Der Klient wird gebeten, von diesem jetzigen Empfinden seiner selbst ein Erinnerungsbild zu machen, wie ein inneres Foto dieser Situation, so dass er sie sich späterwieder vergegenwärtigen kann. Manchmal kann auch die Integration ins Hier und Jetzt noch einmal gezielt angeregt werden; besonders bei Klienten, die damit in vorhergegangenen Strukturen Schwierigkeiten hatten: "Wie sieht vor dem Hintergrund dieses Bildes die heutige Situation aus? Wie geht es dir, wenn du zu dem negativen Aspekt derrealen Figur blickst?" In der Regel wird dies aber der spontanen inneren Reorganisation überlassen. Signalisiert der Klient, dass er die Verinnerlichung des positiven Bildes abgeschlossen hat, werden nach und nach die anderen Gruppenmitglieder ritualisiert aus ihren Rollen entlassen; zuerst die negativen Figuren, zuletzt und meist gleichzeitig die Idealen Eltern. Es folgt eine Runde des Teilens (Sharing), wo sie über ihre eigenen Empfindungen berichten können, ohne den Protagonisten direkt anzusprechen oder diesem gar Feedback zu geben - wie nach einer Operation soll dieser in einem geschützten Rahmendie neue Erfahrung verarbeiten und nach eigenem Tempo in die Realität der Gruppe im Hier und Jetzt zurückkehren können. 7

Neuere Entwicklungen

Bestätigung durch neurophysiologische Erkenntnisse

Eine außerordentliche Genugtuung war es für die Pessos, ihre aus klinischer Erfahrung gefolgerten Annahmen zunehmend von der neurophysiologischen Forschung bestätigt zu sehen. Diese Konvergenzen reichen von der Rolle von Körperwahrnehmung für die Entwicklung von Bewusstsein, der Relevanz homöostatischer Regelkreise als Vorstufe wahrgenommener Emotionen für die Konstanz des Selbst, der Bedeutung prägender Lernerfahrung für die Filterung und Kategorisierung späterer Wahrnehmungsprozesse bis hin zu den Konsequenzen frühkindlicher Deprivation auf die Differenzierung des Frontalcortex. Besonders interessant ist die Bedeutung des Hippocampus für die zentralen Elemente der Stukturarbeit: Emotion, Gedächtnis und räumliche Orientierung und die Tatsache, dass diese Hirnregion im Gegensatz zu den meistenanderen auch ins höhere Lebensalter hinein plastisch bleibt. Auch die Lokalisation von Verhaltenskategorien, die die Pessos in ihrer therapeutischen Arbeit als miteinanderverwandt und manchmal ineinander übergehend oder einander ersetzend beobachtet hatten, in nahe beieinander lokalisierten Gehirnregionen lässt die Vermutung zu, dasstatsächlich auf physiologischer Ebene eine Assoziation besteht und eine Mitaktivierung der benachbarten Regionen stattfinden könnte. Forschungsarbeiten zum Effekt von Pessotherapeutischer Arbeit auf die Aktivität der für Gedächtnis und Emotionen relevanten Strukturen des Gehirns sind im Gange.

Anwendung im Einzelsetting

Das genauere Verständnis der in der Strukturarbeit ablaufenden Prozesse und die Tatsache, dass viele Ausbildungsteilnehmer viel öfter im Einzel- als im Gruppensetting arbeiten, führte zur Adaptation der Pesso-Therapie auch für die Einzeltherapie. 8 Auch wenn es sich im Erleben des Klienten manchmal eindrücklich so anfühlt, als ströme etwas zwischen den Idealen Eltern und ihm, so ist doch klar, dass es sich nicht um magische Energieübertragung zwischen den Körpern der Beteiligten handelt, sondern im Wesentlichen darum, dass innere Wahrnehmens- und Erlebenskategorien anderes organisiert oder völlig neu eröffnet werden. Die äußere Repräsentation der alten (in der Wahren Szene) wie der neuen (in der Idealen Szene) Kategorien hat nur abbildende Funktion und erlaubt es, diese Reorganisation zu begleiten und in heilende Bahnen zubringen. Die eigentliche Veränderung geschieht aber nicht auf der Ebene der äußeren Darstellung, sondern mit deren Hilfe auf der Ebene der inneren Repräsentation im Gehirn. Die äußere Darstellung und Veränderung kann daher bei ausreichender Symbolisierungsfähigkeit des Klienten in gewissem Maß auch mit Hilfe von Objekten oderganz in der Vorstellung geschehen; die Relevanz der räumlichen Anordnung und auch die Arbeit mit den Körperimpulsen bleiben hierbei konstant. Einschränkungen bringtdie Arbeit im Einzelsetting dann, wenn ein realer Körperkontakt zu den Idealen Eltern die Glaubhaftigkeit der neu gebildeten Kategorie bestätigen müsste und insbesonderebei der Notwendigkeit von Begrenzung. Auch wenn nicht genügend positive Interaktionen in der Lebensgeschichte vorhanden sind, so dass aus den mosaikhaft vorhandenen Modellen in der Vorstellung Ideale Eltern konstruiert werden können, kommt die Anwendung im Einzelsetting an Grenzen. Es fehlt darin auch das Miterleben der therapeutischen Arbeit anderer, welches die eigenen Bedürftigkeiten normalisiert, und die Erfahrung, selbst die Rolle Idealer Figuren für andere Gruppenmitglieder ausfüllen zu können, die hierzu ebenfalls ein Gegengewicht bildet und therapeutischen Nutzen hat. Daher hat sich in der Praxis meist eine Kombination von Einzelarbeit und gelegentlicher Gruppenteilnahme als nützlich erwiesen.

Die Bedeutung von Defiziten der Elterngeneration

Eine weitere Differenzierung hat die Theorie der genetischen Antriebe in jüngster Zeit erfahren. Al Pesso unterscheidet nun drei Ebenen oder Schichten (tiers) therapeutischer Arbeit. Die Erste hat mit Entbehrungen, mit mangelnder Erfahrung positiver Interaktionen zu tun, also mit Defiziten im engeren Sinne, die im Rahmen der Antidot-Szene durch Interaktion mit den Idealen Eltern aufgefüllt werden können. Die zweite Ebene bezieht sich auf die Konsequenzen traumatischer Erfahrungen, wo in Verletzung der Grenzen der Person etwas unerwünscht in diese eingedrungen ist. Hier muss die therapeutische Arbeit häufig alle Ebenen der genetischen Grundantriebe umfassen. Unter besonderer Betonung der Integrität des Piloten können die Themen der Strukturen von den Grundbedürfnissen (z.B. nach Schutz oder Begrenzung) über die Polaritäten (Aufnahme / Abgabe oder Kraft / Verletzlichkeit) bis hin zur Entwicklung von Bewusstheit für bislang nur durch Abspaltung ertragene Erfahrungen oder Erinnerungen gehen. Auch die Definition der Besonderheit der eigenen Person durch andere Merkmale als das des erlittenen Missbrauchs kann sich als Aufgabe stellen. Die Pesso-Therapie ermöglicht also ein sehr differenziertes und umfassendes Arbeiten mit dem Thema Trauma und Missbrauch.9 Indem sie einen bewussten Schwerpunkt auf die Konstruktion positiver Erfahrungen legt und bei allen Schritten den Piloten bewusst einbezieht, beugt sie trotz der emotionalen Intensität der Arbeit einer Retraumatisierung vor. Die letzte und neueste Ebene der therapeutischen Arbeit in der Pesso-Therapie hat mit den Konsequenzen elterlicher Defizite zu tun. In Weiterentwicklung des Konzepts magisch omnipotenter innerer Anteile geht es hier darum, zu verstehen, wie das Kind auf von ihm wahrgenommene Bedürftigkeiten der Eltern reagiert. Die Bereitschaft, die Verantwortung für die Eltern zu übernehmen und deren Defizite zu versorgen, basiert auf der natürlichen Fähigkeit zur Empathie und auf den im Kind vorhandenen Anlagen zur Übernahme partnerschaftlicher oder elterlicher Funktionen. Diese Anlagen werden durch bedürftige Eltern vorzeitig stimuliert und gelangen so zur Ausprägung, bevor die eigenen Bedürfnisse zunächst als von außen befriedigt erlebt werden konnten. Vielleicht spielt hierbei auch die Hoffnung des Kindes eine Rolle, dassdie von ihm versorgten Eltern auf längere Sicht doch in die Lage versetzt werden könnten, ihrerseits für das Kind zu sorgen. Die Verletzung der genetisch vorprogrammierten Reihenfolge der Bedürfnisbefriedigung dient sicherlich dem Überleben der Spezies, hat aber den Preis für das Individuum, dass die zur Unzeit ausgebildeten versorgenden Funktionen einen fremdbestimmten, unintegrierten Charakter haben (Al Pesso nennt sie "entities", etwa "eigenständige Gebilde") und den Kontakt zum eigenen Kern, zu den eigenen Interessen und Bedürftigkeiten verbauen. Dies zeigt sich in einer spezifischen Form des Widerstandes gegen die Einführung Idealer Eltern für den Klienten. Bevor es für ihn möglich werden kann, diese für sich selbst anzunehmen, wie es auf der ersten therapeutischen Ebene geschieht, muss vorrangig die tief empfundene Verantwortlichkeit für das Wohlergehen seiner Eltern aufgelöst werden. Dies ist durch die Figuren Idealer Eltern für die realen Eltern (oder für deren bedürftige Anteile) möglich; es kann gewissermassen eine Struktur mit dem Ziel der Befriedigung der Bedürfnisse der Eltern (oder noch weiter vorhergehender Generationen) konstruiert werden. Erst die Befreiung des Protagonisten von dieser Verantwortung schafft für ihn den Zugang zu den eigenen Entbehrungen und die innere Erlaubnis, etwas für sich selbst zu empfangen.

Danksagung

Ich danke meinen Lehrern Albert Pesso, Louisa Howe und Lowijs Perquin, für all das, was sie mir mitgegeben haben, für ihre Unterstützung und ihr Zutrauen. Mein Dank giltauch der Gruppe in München, wo ich meine Ausbildung abschließen konnte, vor allem deren Organisatorin Dr. Sybille v. Bibra, meinem langjährigen Co-Therapeuten Leonhard Schrenker und meiner Intervisionspartnerin Heidi Ramesh.

Literaturverzeichnis

Dipl.-Psych. Barbara Fischer-Bartelmann
Köpfelweg 58
69118 Heidelberg Die Psychotherapie entdeckt den Körper - oder: Keine Psychotherapie ohne Körperarbeit? 1 Hierdurch wird auch die Frage unwichtig, ob den realen Eltern Schuld zugeschrieben werden müsste, ob diese vor ihrem realen lebensgeschichtlichen Hintergrund anders hätten handeln können oder sollen. Die Idealen Eltern, deren hypothetischer Hintergrund alle nötigen Ressourcen aufweist, stehen nicht zu ihnen in Konkurrenz, sondern sind eine alternative Erfahrung für den Protagonisten. 2 Die folgende Darstellung der Grundbedürfnisse und Polaritäten richtet sich weitgehend nach: Pesso A, Boyden Pesso D: Slide Introduction to Pesso Boyden System Psychomotor. Power Point Presentation, Strolling Woods1994 (C) Al Pesso and Diane Boyden-Pesso 3 Zum Thema Begrenzung siehe den Artikel von Lowijs Perquin in diesem Band. Zum Thema Suizidalität siehe Pesso A: Working with Suicidal Clients. In: Pesso A, Candell J (eds.): Moving Psychotherapy: theory and applications of the Pesso System/Psychomotor Therapy. New York: Bookline Books, 1991, 199-204. 4 Zum Thema Microtracking siehe den detaillierten Artikel von Michael Bachg in diesem Band 5 Das Wort Zeuge ist hier nicht in der juristischen Konnotation zu verstehen, wie sie in der deutschen Sprache wohlals Erste assoziiert wird, sondern im Bedeutungsfeld des englischen Begriffes "to witness": Zeuge eines Ereignisses werden, etwas bezeugen, dessen Wahrheit man sich verpflichtet fühlt, wie etwa in "Zeugen Jehovas". 6 Der Ökonomie halber können die Stimmen aber auch nur im Raum lokalisiert oder durch ein Objekt dargestellt werden, so dass bei einer begrenzten Gruppengröße erst hier Rollenspieler zum Einsatz kommen. Es ist auch möglich, eine bereits besetzte Rolle umzudefinieren von einer Stimme zu einer negativen Figur hin. 7 Für die vollständige Beschreibung einer Struktur im Kontext der Therapiegruppe siehe den Artikel von Leonhard Schrenker "Der psychotherapeutische Prozess in der Pesso-Therapie (PBSP)" in diesem Band. 8 Für Einzelheiten siehe den Artikel von Ulrich Kniep in diesem Band. 9 Eine sehr dichte Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten und -strategien von Trauma mit Hilfe der Pesso-Therapie findet sich in Drescher-Schwarz R. (2001).